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Frauen der Unterwelt.

Sieben hysterische Akte

Am Ballhaus Ost geben Tine Rahel Völcker und Ensemble sieben vergessenen Frauen, die Opfer der sogenannten NS-Krankenmorde wurden, eine Stimme

Bewertung:    



„Mein Intellekt... Mein Verlangen... Mein Körper wurde getötet, weil er gestört hat.“ Die Rede ist hier von Frauen. Frauen der Unterwelt. Sieben hysterische Akte, wie das Stück von Theaterautorin Tine Rahel Völcker heißt. Es geht um die Ermordung von rund 13.700 als psychisch krank geltenden und geistig behinderten Menschen, die von den Nazis als lebensunwert eingestuft in der Zeit von 1940 bis 1941 in der NS-Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein systematisch vergast wurden. Das Stück gibt aber nicht nur Einblick in die bürokratische Tötungsmaschinerie, sondern geht zurück bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden Weimarer Republik. Der Text liefert auch ein sehr detailliertes Gesellschaftsbild vor allem in Bezug auf unangepasste, selbstbewusst lebende moderne Frauen und ihre Stellung und Wahrnehmung in der ersten deutschen Demokratie. Die Autorin, die am mitproduzierenden Ballhaus Ost auch erstmals Regie führte, hat im Archiv der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein sowie im Bundesarchiv recherchiert. Verwendung in ihrem starken Text finden u.a. auch ärztliche Originaldokumente und Passagen aus Briefen der ermordeten Frauen. Das Recherchematerial hat Tine Rahel Völker mit fiktionalen Handlungssträngen und Monologen der Frauen angereichert.

Herausgekommen sind sieben sehr eindrückliche Kurzportraits der betroffenen Frauen sowie einer Tochter und eines Bruders einer in der Anstalt Pirna-Sonnenstein Ermordeten. Sieben „hysterische Sprechakte“, wie es heißt, in Folge vorgetragen von den sieben PerforerInnen eines weiblich-queeren Ensembles. Sieben Schicksale stellvertretend für die vielen so ermordeten Menschen. Den Zuschauersaal im Ballhaus Ost betritt das Publikum über den benachbarten Friedhof der Freigeistigen Gemeinschaft Berlin e.V. Hier ist die 1894 durch Selbstmord aus dem Leben geschiedene Sozialdemokratin Agnes Wabnitz beigesetzt. Sie wurde als politische Gegnerin der Kaiserzeit inhaftiert, nach einem Hungerstreik zwangsernährt und in eine Irrenanstalt eingewiesen. Sie kämpfte wie die Frauen im Stück auch gegen ihre Entmündigung. Wie ein Sakralraum mit großem Tisch und Kerzen am Ende ist der Saal drinnen (Ausstattung: Jessica Rockstroh) gestaltet. Zwischen zwei Stuhltribünen sitzen die PerformerInnen auf Stühlen vor Notenständern wie bei einem Konzert.

So sakral geht es dann aber gar nicht weiter. Schon im ersten Akt lernen wir mit der Journalistin Ann Esser (Iris Minich) eine starke, selbstbewusste Frau in den politischen Wirren vor der Machtergreifung der Nazis kennen. Sie träumt von einer Gesellschaft, in der man für seine Liebe nicht mehr bestraft wird, eckt als Kommunistin bei ihren Vorgesetzten in der Redaktion an, wird entlassen und bekommt keine Arbeit mehr. Der Motor Mensch versagt, die Verzweiflung treibt die kräftige Frau in den Wahn. Unter den Nazis kommt sie zunächst in Schutzhaft und dann in die Irrenanstalt. Aber selbst da kämpft sie immer kraftloser werdend weiter für ihre Rechte.

Krank oder kriminell, erbgesund oder erbkrank. Mit diesen Kategorien sehen sich plötzlich auch die meisten der anderen Frauen konfrontiert, wie etwa die lebenslustige Proletarierin Frieda W. (Noras Quest), die ein Kind nach dem anderen von verschiedenen Männern in die Welt setzt, sozusagen eine neue Welt gebären will, und an den prekären Verhältnissen, bigotten Amtsträgern und der Gesetzgebung scheitert. Selbst der aus gutbürgerlicher Familie stammenden Johanna S. (Olga Feger), die als moderne Geschäftsfrau im Beruf steht, wird ihr Erfolg durch Nachbarn geneidet. Alle Aussagen werden akribisch dokumentiert und im Entmündigungsprozess gegen sie verwendet. „Ich habe erreicht, was eine Frau erreichen kann.“ Nur ihr Partner nimmt sich dann doch lieber eine „Frau vom alten Schlag“. Nicht nur in kleinen Spielszenen, auch in einer Tanz-Choreografie wird eine Frauenbiografie vorgestellt. „Ich in ein Stern, Licht kann man nicht einsperren.“ sagt sehr poetisch die Stimme von Lina (Lara Anaïs Martínez-Wiesselmann) aus dem Off.

Wegsperren, Zwangsterilisation und schließlich die in der Berliner Zentraldienststelle T4 geplante Tötung sind das Schicksal dieser Frauen. In den Familien wird über betroffene Angehörige geschwiegen. Ein Portrait lässt den Zwillingsbruder (Philipp Engelhardt) eines geistig zurückgebliebenen Mädchens zu Wort kommen. Aber auch nach dem Krieg war die Aufarbeitung der Geschichte der Anstalt Pirna-Sonnenstein kein offizielles Thema in der DDR, wie man in einem Monolog der Tochter (Tucké Royale) einer Ermordeten erfährt. Gerade deshalb sind solche Theaterabende gegen das allgemeine Geschichtsvergessen heute wieder so immens wichtig. Oder wie es Vernesa Berbo als gegen das gesellschaftliche Selbstverständnis traditioneller Mutterschaft widerständige Bauersfrau Margarete B. sagt: „Was stört, das lebt.“



Frauen der Unterwelt im Ballhaus Ost | Foto (C) Dorothea Tuch

Stefan Bock - 10. Dezember 2019
ID 11876
FRAUEN DER UNTERWELT (Ballhaus Ost, 08.12.2019)
Sieben hysterische Akte

Text, Konzept und künstlerische Einrichtung: Tine Rahel Völcker
Choreografie (3. Akt): Lara Anaïs Martínez-Wiesselmann
Ausstattung: Jessica Rockstroh
Musik: Simon Bauer
Lichtdesign: Jones Seitz
Mit: Vernesa Berbo, Philipp Engelhardt, Olga Feger, Lara Anaïs Martínez-Wiesselmann, Iris Minich, Nora Quest und Tucké Royale
Premiere war am 7. Dezember 2019.
Weitere Termine: 16.-19.01.2020
Eine Produktion von Tine Rahel Völcker in Kooperation mit dem Ballhaus Ost


Weitere Infos siehe auch: https://www.ballhausost.de/


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