Uraufführung in den Kammerspielen des DT Berlin
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Plastik: das Übel
der Menschheit
UNERTRÄGLICH LANGE UMARMUNG von Iwan Wyrpajew
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Bewertung:
Nicht immer erlaubt die Verpackung Rückschlüsse auf den Inhalt. Wer bei Unerträglich lange Umarmung Romantisches vermutet, wird enttäuscht, vielleicht sogar vor den Kopf gestoßen werden. Mehre Zuschauer verlassen nach den ersten zehn Minuten bereits den Saal - und das in Berlin. Nackte Menschen sucht der Zuschauer allerdings vergeblich. Dafür ist die Sprache umso aggressiver: Zwei Worte fallen besonders häufig: „verfickt" und „Scheißleben“. Beide Begriffe fassen die Lebenssituation der vier Protagonisten (mehr Schauspieler hat das Stück nicht) treffend zusammen.
Gezeigt werden ein Pärchen (Moritz Grove und Julia Nachtmann) in einer durch eine Abtreibung ausgelösten Beziehungskrise und zwei einsame Menschen (Franziska Machens und Daniel Hoevels), die in einem veganen Restaurant in New York zueinander finden und eine Affäre miteinander eingehen. Die Geschichten der vier werden im Laufe des Stücks miteinander verwoben. Neue Beziehungen entstehen und werden wieder aufgelöst. Alle vier sind Großstadtmenschen (die Handlung ist in New York und Berlin angesiedelt), Anfang 30 und hoffnungslos verloren. Allen fehlt ein innerer Kompass. An einen Gott glauben sie nicht; an der Leere ihrer Existenz gehen sie fast zugrunde. Sie fühlen sich betrogen. Das Leben hat ihnen nicht das gegeben, was ihnen ihrer Ansicht nach zustünde. Was genau das sein soll, wissen sie jedoch selbst nicht so genau. Einig sind sie sich darüber, dass sie in einer hohlen, ausschließlich auf Äußerlichkeiten ausgerichteten Welt leben. Der Autor Iwan Wyrpajew nennt das eine „Plastewelt“. Die Regisseurin Andrea Moses hat diese Metapher eins zu eins umgesetzt und den Bühnenraum von Rebecca Ringst rundum mit einer gigantischen Plastikfolie überziehen lassen. Die Protagonisten kämpfen sich an dieser Plastikfolie ab. Zeitweisen verlieren sie sich in ihr, ersticken fast an ihr und zerstören sie irgendwann. Am Ende des Stückes liegen die Überbleibsel sauber zusammen gefaltet in der Mitte der Bühne. Die Protagonisten haben sich von ihr losgestrampelt.
Der Inhalt des Stücks ist wenig überraschend. Dem Großstadtpublikum in Midlife- beziehungsweise Quarter Life Crisis mag er nur allzu vertraut sein. Langweilig ist er deswegen nicht. Alltägliches auf der Bühne widergespiegelt zu bekommen, ist nichts Verwerfliches. Vor allem weil Moses sich bei der Umsetzung unkonventioneller Mittel bedient hat. So besteht das Bühnenbild nur aus der erwähnten Plastikfolie und einem rings um die Bühne gespannten Gerüst. An diesem häkeln sich die Schauspieler entlang. Sie klettern, turnen, stürzen um Haaresbreite. Ihre teils sehr bedrückenden Worte aus mehreren Metern Höhe zu hören, verstärkt die Dramatik des Gesagten. Mehr braucht Moses nicht. Unerträglich lange Umarmung überzeugt vor allem durch die Darbietung seiner vier Schauspieler und der von ihnen vorgetragenen Texte. Wyrpajews Sprache ist nüchtern, abgehakt, selbstironisch, mitunter aber grotesk. Die Zerrissenheit der Handlungsträger wird deutlich, in dem sie über sich selbst in der dritten Personen sprechen. Als seien sie bloße Kommentatoren ihres eigenen Lebens.
Nach der Hälfte des Stücks ist der Überraschungseffekt jedoch aufgebraucht. Die Handlung entwickelt sich zwar noch weiter, aber die Handlungsweise der Charaktere ist sehr schnell vorhersehbar. Auch die Sprache wiederholt sich. Eine deutliche Kürzung hätte dem Stück gut getan. Ebenso schade ist, dass der innere Konflikt der Figuren nur ungenügend aufgelöst wird. Wyrpajew verfolgt keinen pädagogischen Ansatz. Er rüttelt lediglich wach. Wie er sich von der Plastikfolie seines eigenen Lebens befreien soll, muss der Zuschauer schon selbst herausfinden. Zu schade nur, dass Platik ein nicht abbaubares Material ist. Und so beißt sich der Hund in den Schwanz.
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Lea Wagner - 17. März 2015 ID 8510
UNERTRÄGLICH LANGE UMARMUNG (Kammerspiele, 15.03.2015)
Regie: Andrea Moses
Bühne: Rebecca Ringst
Kostüme: Svenja Gassen
Musik: Harald Christoph Thiemann
Dramaturgie: Claus Caesar
Mit Moritz Grove, Julia Nachtmann, Franziska Machens und Daniel Hoevels
Uraufführung war am 5. März 2015
Weitere Termine: 19. 3. / 7. 4. / 1. 5. 2015
Weitere Infos siehe auch: http://www.deutschestheater.de
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