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Premierenkritik

Wintersonnenwende

von Roland Schimmelpfennig


Wintersonnenwende am DT Berlin | Foto (C) Arno Declair

Bewertung:    



Stücke, bei denen sich Paare verbal zerfleischen, vorzugsweise unter Alkoholeinfluss, scheinen sich nach wie vor großer Beliebtheit am Theater zu erfreuen. Noch dazu ist Weihnachten ein besonders passender Anlass für Familienstreitigkeiten jeglicher Art. Das Maxim Gorki Theater versuchte im letzten Jahr mit internationaler Besetzung zum christlichen Fest alte Zöpfe [s. Kritik zu Wir Zöpfe] abzuschneiden. Leider nur mit mäßigem Erfolg.

*

Am Deutschen Theater bleibt man lieber unter sich, sprich rein deutsch, bevorzugt Berlin-Mitte. Das passende Stück dazu hat der deutsche Erfolgsdramatiker Roland Schimmelpfennig geschrieben. Er nennt es Wintersonnenwende, ein eher heidnisches Fest kurz vor Jesu Geburt. Die Uraufführung fand im Januar diesen Jahres am Stockholmer Theater Dramaten in der Regie von Valdemar Staffan Holm statt. In Berlin inszenierte nun Jan Bosse die deutsche Erstaufführung. Er konnte in der letzten Spielzeit mit Herbstsonate nach dem Film des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman einen veritablen Erfolg feiern. Ebenfalls ein gutes Stück bürgerlicher Selbstzerstörung unter Verwandten.

Eine weitere Referenz bildet in dieser Hinsicht sicher auch der schwedische Dramatiker August Strindberg. Die seelische und auch körperliche Degenerierung der Schimmelpfennig‘schen Bühnenfiguren befindet sich jedenfalls zum Teil in ähnlich vorgeschrittenem Stadium. Das macht sich besonders am Hausherrn Albert (Felix Goeser) fest, der dem über ihn hereinbrechenden Festtagsstress nur unter dem Einfluss von diversen Medikamenten in Kombination mit Alkohol standzuhalten vermag. Der Verleger, Historiker und Autor mehrerer Schriften über den deutschen Nationalsozialismus wie Vernichtung oder Weihnachten in Ausschwitz ist hoch neurotisch und, wie ihm seine Frau Bettina (Judith Hofmann) vorwirft, konfliktunfähig und ein Meister in der Technik der Vermeidung.

Bettina plagen dagegen vorwiegend Probleme mit ihrer Mutter Cordula (Jutta Wachowiak), die sich mal wieder ungebeten über Weihnachten angesagt hat, und die Tatsache, dass sie als unabhängige Filmemacherin mit Kunstanspruch kaum kommerzielle Erfolg vorweisen kann. In der Beziehung von Albert und Bettina ist die Stimmung dauerhaft angespannt. Sie betrügt ihn mit dem erfolglosen Maler und Freund des Hauses Konrad (Edgar Eckert), er sie mit einer jungen Verlagsmitarbeiterin. Was die zwei trotz Affären immer noch zusammenhält, ist vermutlich die Routine und ein Kind namens Marie, das am Anfang mal kurz ballspielend über die Bühne läuft, und ansonsten von allen in kurzen Auftritten mitgesprochen wird.

Das alles klingt natürlich auch ein wenig nach Arthur Schnitzler oder Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, was Schimmelpfennig auch noch damit befeuert, dass Albert von seiner heimlichen Geliebten am Telefon Albie genannt wird. Ansonsten ist das Stück aber eher eine etwas sperrige Sparvariante eines well-made Play geworden. Es fehlt ihm zum Albee die echte Boshaftigkeit und Lust an der Verletzung sowie die erforderlichen Gegenparts zur Reibung. Die Fallhöhe entwickelt sich hier entlang eines weiteren unerwarteten Gasts, den Mutter Cordula im schneeverwehten Zug kennengelernt und spontan zum Essen eingeladen hat.

Der Arzt Rudolph (Bernd Stempel) ist ein gebildeter älterer Herr, der Cordula endlich wieder das Gefühl gibt, wahrgenommen zu werden. Er ist ritterlich, charmant und Meister am Klavier. Allerdings spielt der Deutsche aus Paraguay vorzugweise Bach und Mozart, findet es erstaunlich, dass Chopin Pole ist und kennt keine jüdischen Komponisten. Das macht ihn in den Augen Alberts natürlich sofort verdächtig, und als Rudolph noch einen Vortrag über die Ordnung der Musik, Gartenunkraut, Blattläuse und das Vermischen von Kulturen hält, ist er sich ziemlich sicher, den Mann zu kennen. Da ist die Fremd- und Selbstwahrnehmung von Albert durch den Alkohol-Medikamenten-Cocktail aber schon so getrübt, dass er Realität und Wahnvorstellungen kaum noch auseinanderhalten kann.

Als die Feier schließlich in einer Art traditionellem Wintersonnenwende-Ritus kulminiert, brechen selbst beim an sich zweifelnden Künstler-Individualisten Konrad ungeahnte Gemeinschaftsgefühle aus. Rudolph piekt in den wunden Punkt der Relevanz von Kunst und der Idee des Schönen. Autor Schimmelpfennig zeigt hier einerseits die Abgestumpftheit des Bildungsbürgertums und anderseits die leichte Verführbarkeit durch nationalheroische Phrasen. In Zeiten von Pegida und dem Ruck nach rechts auch in aufgeklärt erscheinenden intellektuellen Kreisen sicher ein nicht unwichtiger Beitrag.

Inszenatorisch ist das ganz ordentlich gebaut. Die schauspielerische Leistung des Ensembles entsprechend gut. Etwas nervig wirken die von Schimmelpfennig eingebauten Prosatexte, die das Geschehen ständig kommentieren und von den DarstellerInnen wechselnd mitgesprochen werden müssen. Hier beschreibt der Autor Äußerlichkeiten der Figuren, deren Charaktereigenschaften und poetisch fabulierend auch jede Menge Nebensächlichkeiten, die die Story lediglich überladen. Regisseur Jan Bosse lässt das auf einer durch schwarze Vorhangfäden gesäumten Bühne (Stéphane Laimé) mit einer großen, drehbaren Tafel erfolgen, auf und neben der sich das Geschehen mit viel Sinn für Situationskomik und auch einem echten Slapstick mit falschem Tannenbaum abspielt. Am Ende verliert sich der Autor aber wieder mal etwas zu sehr im märchenhaft Mystischen mit Christkind.
Stefan Bock - 24. Oktober 2015
ID 8940
WINTERSONNENWENDE (Deutsches Theater Berlin, 23.10.2015)
Regie: Jan Bosse
Bühne: Stéphane Laimé
Kostüme: Kathrin Plath
Musik: Arno Kraehahn
Dramaturgie: David Heiligers
Besetzung:
Felix Goeser (Albert), Judith Hofmann (Bettina), Jutta Wachowiak (Corinna), Bernd Stempel (Rudolph) und Edgar Eckert (Konrad)
DSE war am 23. Oktober 2015
Weitere Termine: 27. 10. / 8., 12., 27. 11. / 26. 12. 2015


Weitere Infos siehe auch: http://www.deutschestheater.de


Post an Stefan Bock

blog.theater-nachtgedanken.de

Uraufführungen



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