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Vaterunser

im Keller



Abraumhalde von Elfriede Jelinek am Theater Bonn | Foto (C) Thilo Beu

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„Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe...“ Inbrünstig spricht Laura Sundermann diese Verse, während sie von fünf männlichen Gestalten emporgehoben wird. Es sind Worte aus dem wohl gebräuchlichsten Gebet des Christentums. Als einzige Frau auf der Bühne versucht sich ihre Figur mit einer Wortflut zu behaupten, scheint jedoch oft unterlegen, untergeben und unterworfen. Die väterliche Kraft lauert. Schließlich wartet im eng umgrenzten Raum der Schöpfer, Erhalter, Allmächtige und Allumfasser. Dessen Penis verleitet ihn immer wieder dazu, sich von der eigenen Tochter in Versuchung führen zu lassen. In der mindestens sieben Mal gesicherten und abgeschlossenen Kellerwohnung ist er der Herr der Herrlichkeiten. Seine Ehefrau oben in der Wohnung ist schweigsame Mitwisserin um das furchtbar fruchtbare Kellerglück.

Als Kulminationspunkt männlicher Verbrechen an der Frau zitiert Elfriede Jelinek wiederholt den Fall Josef Fritzl von 2008. Der mittlerweile 82-jährige Geschäftsmann Josef Fritzl aus Amstetten in Niederösterreich hielt seine Tochter 24 Jahre lang im hauseigenen Keller gefangen, missbrauchte und vergewaltigte sie dort. Sie bekam im Keller sieben Kinder. Drei dieser Kinder hielt Fritzl ebenfalls über Jahre unterirdisch gefangen. Jelinek schrieb Abraumhalde (2009) als Sekundärdrama zu G. E. Lessings Nathan der Weise (1783). Jelinek bezieht Lessings fünfaktiges Drama, einen für religiöse Toleranz und Humanismus werbenden Klassiker der Aufklärung, auf die heutige Zeit und denkt es weiter. Abraumhalde soll so auch nicht losgelöst von Lessings Drama inszeniert werden. Das Bonner Theaterhaus erhielt eine Aufführungsgenehmigung nur, da hier in der gleichen Spielzeit Lessings Nathan gezeigt wird - Elemente des Bühnenbildes erinnern an diese sehenswerte Inszenierung Volker Löschs.

Da ist das Reclam-Gelb, in denen einzelne, buchähnlich gestaltete Bühnenelemente leuchten, was an ein spießbürgerliches Bildungsbürgertum gemahnen soll. Auch der fremdländische Flair Jerusalems, dem Handlungsort aus Nathan, wird durch Accessoires wie eine Palme und ein schmuckverziertes Fenster im Bühnenhintergrund Ausdruck verliehen. Im Zentrum liegen ausgebrannte Überreste eines Dachgiebels, was an den Beginn von Lessings Drama erinnert. Nathans Haus ist hier abgebrannt, und seine Tochter wurde gerade von einem jungen Tempelherrn aus den Flammen gerettet.

In Simone Blattners Abraumhalde-Inszenierung gewinnt man immer wieder unterschiedlichen Blickwinkel auf die zurückgebliebenen Überreste, indem die Figuren das Gerüst drehen. Einzelne Balken ragen über den Bühnenrand, und die ersten zwei (leergebliebenen) Zuschauerreihen hinweg. Auf den Balken tummeln sich bald, wie über einen Abgrund, allzu schräge Figuren. Zu Beginn noch minutenlang schweigend fallen ausgefallen groteske Kostümen ins Auge, welche die Gestalten wohl als unterschiedliche Typen stilisieren soll. Philipp Basener trägt einen Schweinskopf, Bernd Braun einen raumgreifenden Reifrock. Allen männlichen Darstellern bedecken außerdem befremdliche Kopfbedeckungen oder unförmige Perücken das Haupt.

Gemeinsam wird blindlinks drauflos geschnackt und gefrotzelt. Schon bald bricht sich scheinbar Unzusammenhängendes in sprachlichen Assoziationsketten bahn. Zunächst banal erscheinende Verdrehungen in der Sprache bergen zuweilen Überraschendes. Inhaltlich geht es vielstimmig kalauerhaft mal um die Bauwirtschaft, mal um Eigentum und schließlich um Inzestverbrechen. Wiederholt wird der Koran gepriesen. Die fünf männlichen Gestalten auf der Bühne schwärmen gemeinsam von den sogenannten „Huris“. Das sind nach islamischen Glauben mindestens 72 Jungfrauen, die im Paradies den Seligen beigegeben werden. Nach Schilderungen des Korans warten diese im Jenseits „großäugig“, „von blendender Schönheit“ und mit schwellenden Brüsten. Warum müsse man sich da auf Erden nur mit einer Frau begnügen, zumal dies ja alsbald keine Jungfrau mehr sei. Derartige misogyne Anmutungen stehen im Kontrast zu Lessings Toleranzgedanken. Manchmal fällt es schwer, den komplexen Winkelzügen der Sprachgedanken in den Monologen der Figuren zu folgen. Insbesondere die absurde Zeichnung der Figuren ermüdet alsbald etwas. Neben einem erfrischenden Herrenchor sorgt insbesondere die zwischen gefasst, wütend und verzweifelt oszillierende Laura Sundermann auch durch einen fliegenden Wechsel ihrer Kostüme für allerlei Dynamik. Übrigens, auch in FaustIn and Out (2012), Jelineks Sekundärdrama zu Goethes Faust, verleihen Assoziationen zum Inzestfall Fritzl einem Klassiker ganz neue Tiefen.



Abraumhalde am Theater Bonn | Foto (C) Thilo Beu

Ansgar Skoda - 1. Juli 2017
ID 10118
ABRAUMHALDE (Kammerspiele Bad Godesberg, 29.06.2017)
Regie: Simone Blattner
Bühne: Martin Miotk
Kostüme Andy Besuch
Musik: Christopher Brandt
Licht: Sirko Lamprecht
Dramaturgie: Jens Groß
Mit: Laura Sundermann, Bernd Braun, Daniel Breitfelder, Holger Kraft, Sören Wunderlich, Philipp Basener und Chor
Uraufführung im Thalia Theater Hamburg war am 3. Oktober 2009.
Premiere am Theater Bonn: 18. Mai 2017
Weitere Termine: 01., 06., 14.07.2017


Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de


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