Note
überflüssig
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Die Ärztin von Robert Icke am Residenztheater München | Foto (C) Birgit Hupfeld
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Bewertung:
Offenkundig sind die deutschen Dramaturgen zur Überzeugung gelangt, dass die Judenfeindschaft der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert nichts mit den Ereignissen der darauffolgenden Jahrzehnte und mit unserer Gegenwart zu tun habe und daher für ein heutiges Publikum nicht von Interesse sei. Die Vorgeschichte des exterminatorischen Antisemitismus ist ihnen ebenso schnurz wie die Vorgeschichte des 7. Oktober 2023, wie Sabra und Schatila. Deshalb wurde Professor Bernhardi kaum noch gespielt. Dann aber hat ein flinker englischer Überschreiber gegendert und unter dem Titel Die Ärztin aus dem Stück über die Diskriminierung von Juden ein Stück über die Diskriminierung von Frauen gemacht, und prompt eroberte sich Arthur Schnitzlers fast vergessenes „J’accuse…!“ die Bühnen. So auch in München, wo es für die wegen einer Erkrankung abgesagte Fassbinder-Adaption von Oskar Maria Grafs doch sehr andersartigem Bolwieser-Roman einsprang. Schnitzlers großer Wurf erlebt eine ungeahnte Renaissance, indem man den Antisemitismus (gibt’s nicht, außer in den Köpfen von ein paar wehleidigen Juden) hinter Frauenfeindlichkeit versteckt und sich somit auf der Höhe der Zeit bewegt. Entsprechend wurde Die Ärztin nach den ersten Inszenierungen in Österreich, Deutschland und der Schweiz fast ausnahmslos frenetisch gefeiert. Mit Widerspruch ist nicht zu rechnen. Objektiv betrachtet ist genau dies antisemitisch.
Die Ankündigung sichert sich ab. Da heißt es: „von Robert Icke sehr frei nach ‚Professor Bernhardi‘ von Arthur Schnitzler“. Merkwürdig: bisher kam niemand auf die Idee, Eugene O’Neills Trauer muss Elektra tragen „sehr frei nach Aischylos“ zu nennen.
Allerdings verdankt sich der Siegeszug der Ärztin auch der Einfallslosigkeit und dem Konformismus der Theaterleiter und Dramaturgen. Auf das Puppentheater des Nikolaus Habjan, die „Erneuerung“ durch die Ablösung des Literaturtheaters durch die Performance, folgt nun eben das Theater der Stückeüberschreiber, die flächendeckend ihre Selbstüberschätzung bei der „Verbesserung“ von Autorinnen und Autoren demonstrieren, an die sie nicht annähernd heranreichen. Aber niemand sagt, dass der Kaiser nackt ist, weil sich der Konformismus offenbar eher auszahlt als die Kritikfähigkeit.
Zu Robert Ickes erfolgreichsten Stücken zählt eben Die Ärztin. Wer den Völkermord an den Armeniern, den Kolonialismus oder gar Maßnahmen gegen Covid 19 mit dem Holocaust vergleicht, stößt auf Empörung und kommt sogar mit dem Gesetz in Konflikt. Auf dem Theater scheint es als besonders schlau zu gelten, wenn man jegliche Diskriminierung gleichsetzt mit Umständen, die geradewegs zur Shoah geführt haben. Übertragung in die Gegenwart bedeutet für die Direktorien und Dramaturgen, die sich für Icke und gegen Schnitzler entscheiden, die Relativierung der geschichtlichen, bis heute nachwirkenden Wahrheit zugunsten der Schwerpunkte, die aktuell forciert werden. Die einzige Begründung für die Transformation des Arztes Bernhardi in die jüdische Ärztin Ruth Wolff ist die implizite Aussage: was der Figur zustößt, erleidet sie gleichermaßen als Jüdin wie als Frau. Schnitzlers Meisterwerk von 1912, das bis zum Ende der Monarchie in Österreich verboten war, ist ja ein Stück über Antisemitismus, aber auch, was oft übersehen wird, über den Sinn und die Erfolgsaussichten von Widerstand in der Politik, über die Macht von und die Skepsis gegenüber Ideologien. Man muss schon sehr weltfremd sein, wenn man annimmt, derlei bedürfe einer Aktualisierung. Bernhardi allerdings kann sich seinen Sarkasmus leisten, der von Manchen als Arroganz interpretiert wird und ihm bei ihnen die Sympathie entzieht, weil der Massenmord an den europäischen Juden noch bevorsteht. Schnitzler konnte davon nichts wissen. Er ist zuvor gestorben.
Robert Icke weiß mehr. Seine Konsequenz ist eine Geschlechtsumwandlung. Er hat den Vater der verstorbenen Emily hinzugefügt und damit den politischen, politisch instrumentalisierten Antisemitismus in Richtung eines Antisemitismus eines fanatischen Spinners verlagert. Das Kurioseste aber an Ickes Bearbeitung: dass er ausgerechnet der Jüdin unwidersprochen Rassismus – implizit: gegen People of colour – vorwerfen lässt.
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Der Regisseur Miloš Lolić versucht, jeden Anflug von Realismus und Psychologie zu vermeiden. Seine Figuren bewegen sich vor einer Glaswand mit verschiebbaren Scheiben, hinter der Nebelschwaden aufsteigen, weitgehend wie in Trance. Dazu ertönt im Hintergrund pausenlos Musik.
Bei Icke steht das gedankenreiche Gespräch zwischen der Ärztin und dem Pfarrer am Schluss der „Komödie“. Bei Schnitzler findet es im vierten Akt statt. Es folgt noch bei ihm ein ganzer Akt, der dem Stück eine unverzichtbare Wendung verleiht. Icke streicht dieses sarkastische Resümee. Das ist keine Beiläufigkeit. Es kehrt die Aussage in ihr Gegenteil. Bernhardi sagt bei Schnitzler ganz am Ende:
„Sie vergessen nur das eine, lieber Herr Hofrat, wie die meisten übrigen Leute, daß ich ja nicht im entferntesten daran gedacht habe, irgendeine Frage lösen zu wollen. Ich habe einfach in einem ganz speziellen Fall getan, was ich für das Richtige hielt.“
Ickes Ruth Wolff kommt so etwas nicht in den Sinn und erst recht nicht über die Lippen. Damit aber steht und fällt, was Schnitzler uns sagen wollte. Schade drum.
Man kann es auch anders formulieren. Man sollte Dramen der Vergangenheit nur „überschreiben“, wenn das Ergebnis zumindest so intelligent ist wie die Vorlage. Wenn es dümmer ist, dient es allein dem Konto des Bearbeiters. Note: überflüssig.
Das gilt jedenfalls für das Stück. Die Aufführung lässt nicht erkennen, dass das Ensemble damit Probleme gehabt hätte. Aber es gehört wohl zur Psychologie von Theaterleuten, dass sie sich mit Inszenierungen, in denen sie Rollen übernommen und in deren Gestaltung sie Mühe und Arbeit gesteckt haben, identifizieren. Jedenfalls hört man selten von Schauspielerinnen und Schauspielern, die ein verlockendes Angebot ablehnen, weil sie es für unbefriedigend halten.
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Hanna Scheibe und Lisa Wagner (re.) in Die Ärztin von Robert Icke am Residenztheater München | Foto (C) Birgit Hupfeld
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Thomas Rothschild - 22. November 2024 ID 15021
DIE ÄRZTIN (Cuvilliéstheater, 21.11.2024)
von Robert Icke
Inszenierung: Miloš Lolić
Bühne: Volker Thiele
Kostüme: Ellen Hofmann
Komposition: Valerio Tricoli
Licht: Verena Mayr
Dramaturgie: Katrin Michaels
Besetzung:
Ruth Wolff ... Lisa Wagner
Charlie ... Sibylle Canonica
Sami ... Felicia Chin-Malenski
Brian Cyprian ... Delschad Numan Khorschid
Roger Hardiman ... Patrick Isermeyer
Paul Murphy ... Patrick Isermeyer
M ichael Copley ... Cathrin Störmer
Junior ... Markus Subramaniam
Rebecca Roberts ... Carolin Conrad
Pfarrer Jacob Rice/ Vater von Emily Ronan ... Thomas Reisinger
Jemima Flint ... Hanna Scheibe
UA am Almeida Theatre, London: 10.08.2019
DEA am Burgtheater Wien: 07.01.2022
Premiere am Residenztheater München: 21. November 2024
Weitere Termine: 26.11./ 05., 09., 14.12.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.residenztheater.de
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