Lehrstückhaftes
Drama
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Philoktet von Heiner Müller am Deutschen Theater Berlin | Foto (C) Arno Declair
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Bewertung:
Das Drama Philoktet schrieb Heiner Müller 1958 bis 1964 in der DDR, die den Dramatiker wegen seines regimekritischen Stücks Die Umsiedlerin aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen hatte, auch als Reaktion auf diesen Ausschluss. Erst 1968 konnte Müllers Lehrstück über stalinistische Staatsraison am Münchner Residenztheater uraufgeführt werden. Die Umsiedlerin ist in der letzten Spielzeit in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in einer Inszenierung von Jürgen Kuttner und Tom Kühnel mit Jörg Pose in der Rolle des Parteisekretärs Flint neu herausgekommen. Nun hat der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani den Philoktet an gleicher Stelle neu inszeniert. Und wieder spielt Jörg Pose eine der tragenden Rollen, wobei im Philoktet natürlich alle Rollen nach Heiner Müller vor allem Träger einer bestimmten Anschauung sind.
Pose, Müllers zynischen Prolog deklamierend, steigt zu Beginn in eine Wanne und schwebt damit zum Bühnenhimmel. Poses Odysseus ist, wenn man so will, auch hier eine Art Parteisekretär, aber eher ein gewiefter Verwalter des Status Quo, der nicht mehr mit dem Fahrrad übers Land fahren muss, um die Leute zu agitieren. Er fliegt im „Parteiauftrag“ nach Lemnos, wo er einst auf der Fahrt nach Troja den Krieger Philoktet wegen einer faulenden Beinwunde ausgesetzt hatte. Der störte mit dem Gestank und seinem Schmerzgeschrei die Opferzeremonie der Griechen. Für den Kampf nutzlos geworden, siecht Philoktet nun einsam auf der Insel dahin und sinnt auf Rache. Ein Ausgestoßener und Renegat, der infolge eines Orakelspruchs für den Sieg gegen Troja zurückgeholt werden soll.
„Sie haben nichts zu lachen. / Bei dem, was wir jetzt miteinander machen.“ schließen Müllers Eingangsverse ab. Und so ist es dann auch. „Death from Above“ steht auf Odysseus‘ Fluggerät. Der Tod kommt hier vom Himmel, ist aber weder gottgewolltes Schicksal noch wirklich abwendbar. Schicksalhaft verstrickt sind die drei in pixeliges Camouflage gekleideten Protagonisten Müllers freier Antikenadaption nach Sophokles‘ Tragödie des Philoktet aber schon. Odysseus, zynischer Demagoge und intriganter Strippenzieher, will die beiden anderen für die große Sache, den Krieg gegen Troja, einspannen und weiß selbst den toten Philoktet noch propagandistisch auszuschlachten. Sein Mittel zum Zweck ist der junge idealistische Neoptolemos (Niklas Wetzel), Sohn des gefallenen Kriegshelden Achill, den er aus reinem Kalkül mitgenommen hat und an dessen Pflichtgefühl er ständig appelliert. Die Verbindung zu Philoktet (Edgar Eckert) ist der Hass, den beide gegen Odysseus hegen. Neoptolemos weil der ihn um die Waffen des toten Vaters betrogen hat, und Philoktet, weil er von Odysseus auf der menschenleeren Insel ausgesetzt wurde.
Und so willigt Neoptolemus ein Philoktet zum Mitkommen zu überreden und ihm dabei die gefürchtete Waffe, den Bogen des Herakles, abzunehmen. Bei Koohestani sind beide mit einer Kette aneinandergefesselt. In Müllers archaischen Blankversen entwickelt sich so eine ausgeklügelte tödliche Sprachschlacht um Lüge und Wahrheit. Vertrauen und Misstrauen wechseln sich ständig und bilden so eine düstere Spannung und klaustrophobe Stimmung, die sich auch im Bühnenbild wiederspiegelt. Eine Eisenplatte mit Öffnungen, die erst den Boden bedeckt und dann wie eine Wand nach oben gezogen wird. Mit mehreren Livekameras werden die Protagonisten gefilmt und die Bilder auf die Metallwand übertragen. Das Reich des Philoktet befindet sich unter der Bühne, von wo ebenfalls die dortigen Spielszenen nach oben übertragen werden. Das ist neben etwas Laub und dem dazugehörigen Gerät, es lautstark wegzublasen, fast schon das einzige gestaltende Mittel der Inszenierung, die ansonsten rein durch die Mechanik des Blankvers-Textes überzeugt.
Auch fällt einem dazu der sicher überstrapazierte Begriff Werktreue ein. Nur dient die hier vor allem der Veranschaulichung politischer Prozesse, was Koohestani mit Müllers kantigem Lehrstück-Text auch bestens glückt. Der Regisseur fühlte sich an seine Heimat den Iran erinnert und wollte ein Stück über Ausgrenzung und Eingrenzung inszenieren, wie er in einem Interview verlauten ließ. Dazu braucht es dann auch kaum wirklich sichtbare Grenzen zwischen Systemkonformität und Abweichlertum. Zwischen denen verläuft auch unsichtbar die Linie, die moralische Bedenken von Pflicht und Lüge zum Erreichen des Ziels trennt. Auf der schlingert einzig Neoptolemos, der sich dann doch der Pflicht und den Lügen des Odysseus ergibt und den Philoktet, der am Ende den Bogen gegen Odysseus richtet, tötet. Alle sind sie Gefangene im Netz aus Lügen und Intrigen: „So weit sind wir gegangen in der Sache / Im Netz aus eignem und aus fremdem Schritt / Dass uns kein Weg herausgeht als der weitre“, wie es dazu bei Müller heißt. Bleibt nur zu sagen, dass nicht nur in Diktaturen die Staatsraison vor so mancher unbequemen Wahrheit den Vorrang genießt. Viel mehr an Aktualität braucht dieses düster konzentrierte Kammerspiel nicht.
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Philoktet von Heiner Müller am Deutschen Theater Berlin | Foto (C) Arno Declair
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Stefan Bock - 8. Oktober 2019 ID 11732
PHILOKTET (Kammerspiele, 06.10.2019)
Regie: Amir Reza Koohestani
Bühne: Mitra Nadjmabadi
Kostüme: Lea Søvsø
Musik: Bamdad Afshar
Video: Phillip Hohenwarter
Licht: Marco Scherle
Dramaturgie: Sima Djabar Zadegan und John von Düffel
Mit: Edgar Eckert (Philoktet), Jörg Pose (Odysseus) und Niklas Wetzel (Neoptolemos)
Uraufführung am Bayerischen Staatsschauspiel, München: 13. Juli 1968
Premiere am DT Berlin: 5. Oktober 2019
Weitere Termine: 18., 26., 29.10. / 07., 10., 15.11. / 26.12.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.deutschestheater.de
Post an Stefan Bock
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