Ein
Balance-
Akt
KLUGE GEFÜHLE im HAU Hebbel am Ufer
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Bildquelle: hebbel-am-ufer.de
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Bewertung:
Gerade findet - noch bis heute Abend - das Performing Arts Festival Berlin (PAF) statt, es dient als Leistungsschau der sog. Freien Szene (oft dann auch als sog. Off-Theater im Bewusstsein). Fakt ist, dass Berlin der wichtigste und dichteste Haupttummelplatz der sicherlich nicht unoft um ihr existenzielles Fortbestehen kämpfenden "freien" will sagen mehr oder weniger unsubventionierten Theater-, Musik-, Performance-, Tanz- oder auch Puppen-und-Figuren-Schaffenden im Bundesmaßstab ist. Es gibt so viele Einzelne und "Truppen", dass man sie schlicht niemals alle je zu fassen kriegte - und beim Durchblättern des aktuellen und fast 200 Seiten starken PAF-Kataloges stoße ich auf Namen, die ich bis dahin noch immer nicht gekannt zu haben meinte; hier die Übersicht noch zu behalten, ist tatsächlich schwer.
Nun ist es ja nicht so, dass wir hier - auf KULTURA-EXTRA - Unbeobachtende dieser so vitalen Szene sind; und wir belegten das in letzter Zeit auch durch Besuche von Bolero, Das gute Leben, Come as you are # 2017 oder Der Theaterkritiker, die zu den unzähligen Bestandteilen besagter Leistungsschau gehören.
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Gestern war die sensationell zu nennende Premiere von Kluge Gefühle mit dem aller Wahrscheinlichkeit nach autobiografisch durchaderten Theater-Text der 1983 in Teheran geborenen und seit 1985 in Deutschland lebenden deutschen Schauspielerin, Filmemacherin und Autorin Maryam Zaree; Regie führte (erstmals) Schaubühnen-Superstar Niels Bormann!
Und ich konstatierte nach Verlauf des hochemotionalen und -brisanten Abends: Nicht zu toppen!!!!!
Es wäre "eine komische Tragödie: Tara und ihre Mutter Shahla haben sich der Vergangenheit entledigt. Zumindest hoffen sie das. Stattdessen gibt es den Job, Männer, die nicht antworten, und einen Therapeuten, der sich weigert die wesentlichen Probleme des Lebens zu erkennen. Die Vergangenheit aber hat ihre eigenen Vorstellungen davon, was wesentlich ist, und vor allem mag sie es gar nicht, geleugnet zu werden. 'Sie haben mich aufgenommen, weil sie dachten, das könnte exotisch werden: Folter, Gefängnis und das Zeugs; stattdessen rede ich seit Wochen nur von meiner Online-Bekanntschaft,' stellt Tara fest."
(Quelle: hebbel-am-ufer.de)
Eva Bay vermittelte sonach berufliche als wie private Höhen sowie Tiefen einer eigentlich erfolgreich praktizierenden Anwältin für Asylrecht, aber eigentlich (aus anfangs ungeklärter Ursache) so "nebenher" vergeblich sich um einen Mann an ihrer Seite mühenden also de facto einsam vor sich hin dümpelnden Job- oder Karrierefrau; das Letztere barg einesteils hochkomische Momente im hinlänglichen Klischeebereich à la 'du bist schon 35, und du hast noch immer keinen Mann' und hatte andernteils (was erst zur Stückmitte zur Dechiffrierung kam) tragischen Grund, denn: Tara´s Mutter Shahla (überzeugend von dem Comedy- sowie Allround-TV-Star Anke Engelke gespielt!) geriet nach Ausbruch der Islamischen Revolution in iranische Gefangenschaft, wurde dortselbst gefoltert und gebar ihr Kind trotz all ihres Versehrtseins lebend; irgendwie gelang ihnen, Mutter & Tochter, dann die Flucht nach Deutschland...
Es gab pseudomonologische, v.a. aber dialogische Passagen in dem dramaturgisch gut verstrickten Text - zumeist wurden Telefonate oder Online-Chats (wenn/wie z.B. Tara ihre neuen Chat-Bekanntschaft "trifft") gesprochen oder aufgesagt oder auch bloß, im Fall von AB-Nachrichten, durch die mit einem Tamburin durchs Stück geleitende Takako Suzuki zitiert.
Reale Aufeinandertreffen fanden - außer zwischen Tara und ihrer Mutter - auch noch zwischen ihr und ihrem Psychotherapeuten (suverän-sonor verkörpert von dem permanent im Schneidersitz verharrt seienden Christian Steyer!), zwischen ihr und ihrer unter der Folterspiel-Fuchtel des halbwüchsigen und gamessüchtigen Sohnes leidenden besten Freundin (explosiv und lustig vorgeführt von Sarah Masuch!) und zwischen ihr und dem ihre im Auto vergessenen persönlichen Dinge gefunden habenden iranischstämmigen Taxifahrer (beeindruckend: Ali Kamrani!) szenisch statt; Shahla war urplötzlich verschwunden, Tara hielt sie für vermisst und kriegte Panik, und sie fand dann in der Mutterwohnung Dokumente, die von ihrer Nach-Folter-Geburt, die sie bis dahin noch nicht wusste, Zeugnis gaben.
Es kam schließlich raus, dass Shahla zwischenzeitlich beim Den Haager Tribunal gewesen wäre, wo sie über ihre Folter- und Gefängniszeit im Iran aussagte (Szenenkonstrukt zwischen Engelke + Suzuki); eine letztliche Befreiung von dem jahre- und jahrzehntelangen Eingeschwiegensein all ihrer furchtbaren Erlebnisse - DAS war und ist also der Grund, weswegen Tara nicht/noch nicht zu einer für sie "auflösenden" Partnerschaft gelangen konnte; dass sie schließlich ihren Therapeuten, um von ihrem psychoanalytischen Desaster abzulenken, auf das Allerkräftigste zusammenschiss, verlieh dem Stück eine befreierische Luftigkeit.
Sparsamste szenische Gereichungen mit maximalster Wirkung!!!!!
Bin aufs Angenehm-Frustrierende beglückt.
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Andre Sokolowski - 10. Juni 2018 ID 10747
KLUGE GEFÜHLE (HAU3, 09.06.2018)
Regie: Niels Bormann
Text und Dramaturgie: Maryam Zaree
Künstlerische Beratung: Paul Bauer
Bühnenbild: Karin Betzler
Kostüme: Ingken Benesch
Mit: Eva Bay, Anke Engelke, Ali Kamrani, Sarah Masuch, Christian Steyer und Takako Suzuki
Premiere war am 9. Juni 2018.
Weitere Termine: 10.-14.06.2018
Eine Produktion von HAU Hebbel am Ufer
Weitere Infos siehe auch: http://www.hebbel-am-ufer.de
http://www.andre-sokolowski.de
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