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nachDRUCK # 6

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Premierenkritik

Hassmonolog

eines weißen

Mittelklassemanns



Viel gut essen von Sibylle Berg am HOT Potsdam | Foto (C) Thomas M. Jauk

Bewertung:    



Wie geht es eigentlich dem weißen, heterosexuellen, westlichen Mittelklassemann? Als Theaterfigur und Held scheint er ausgedient zu haben. In Abdel-Maksouds Filmbetriebssatire The Sequel Nora wird er sogar für tot erklärt. Im Zeichen der MeToo-Debatte arbeiten sich jetzt wieder einige weibliche und auch männliche Theaterregisseure an ihm ab. So hat gerade BE-Intendant Oliver Reese das neue Tracy-Letts-Stück Wheeler über einen von der Midlife-Crisis geschüttelten 50jährigen Middle-Class-Amerikaners in deutscher Erstaufführung inszeniert. Kommt jener Wheeler bei all seinen Macken als männliches Relikt aus dem 20. Jahrhundert noch relativ sympathisch rüber, bis er vor Selbstmitleid geradezu zerfließt, so hat Schriftstellerin und Theatermacherin Sibylle Berg diese Art Mann jenseits der 40 in ihrem 2014 in Köln uraufgeführtem Stück Viel gut essen wesentlich schärfer porträtiert.

Beschrieben wird der Mann dort eben auch als weiß, heterosexuell und körperlich gesund. Er hat einen mehr oder weniger gut bezahlten Job als IT-Spezialist in einer Kanzlei für Arbeitsrecht. Wie viele seinesgleichen hat er sich angepasst, liebt die Gartenarbeit und kauft sogar im Biomarkt. Dennoch ist er in vielen Dingen eben nicht mehr wandlungsfähig. So schimpft er über die Überfremdung seiner Gegend, aus der er nach Kündigung seiner Wohnung (zum Kauf hat es leider nicht gereicht) gerade verdrängt wird. Auch aus seinem Job hat ihn die neue Abteilungsleiterin, die er als Frau für inkompetent hält, gefeuert. Und so hängt der Protagonist beim Kochen in der noch nicht abbezahlten Küche, wie er selbst immer wieder betont, seinem Leben nach und reflektiert ganz aus der eigenen, beschränkten Sicht seinen Niedergang. Wobei er sich langsam immer mehr in Rage redet.

The Final Countdown von der Band Europe ist Leitmotiv des Stücks und Lieblingssong jenes Mannes, dessen Ära sich sozusagen dem Ende neigt. Die Frau hat ihn nach Jahren der Unzufriedenheit endlich verlassen, um sich selbst zu verwirklichen, und der in seinen Augen unmännliche Sohn redet nicht mehr mit ihm. Wie der Mann irgendwann selbst feststellt, die Wiederholung des Lebens seines Vaters. Damit sind die Parallelen zu Letts Wheeler klar gesetzt. Und doch lässt Sibylle Berg keine Minute Zweifel an der Unfähigkeit dieses Mannes, sein Schicksal nochmal ändern zu können, aufkommen.

In der Reithalle des Hans Otto Theaters hat nun Regisseur Marc Becker Sibylles Bergs Monolog auf mehrere Personen aufgeteilt. Das legt die Autorin mit der Besetzungs-Anweisung: „1 Mann oder viele“, die hier zum Anfang vom siebenköpfigen Ensemble zitiert wird, auch nahe. Man könnte also relativ frei damit verfahren oder sogar (wie Sebastian Nübling in seiner Züricher Inszenierung) eine Travestie mit Frauen in Männerrollen machen. Becker belässt es bei einer fast paritätischen Besetzung von vier Männern und drei Frauen, die als solche auch klar zu erkennen sind. Gespielt wird auf einer fast leeren Bühne mit einer Sichtbetonwand im Hintergrund. Darauf das Gemälde Gewitterfront des Leipziger Malers Neo Rauch. Ein Mann mit Trommel auf einem Acker vor dunklen Wolken. Die Farben des Bilds setzen sich auch in der Kostümierung des Ensembles fort. Die Assoziation verheißt den Aufruf zum letzten Gefecht. Für den männlichen Protagonisten herrscht also Kriegszustand.

Es beginnt mit einem chorischen Vortrag des besagten Europe-Songs, am Piano begleitet von Moritz von Treuenfels. Dann rollen die Ensemblemitglieder Teile einer langen Küchenzeile herein und beginnen zum Textvortrag Möhren zu schnippeln. Bei der Zubereitung eines Essens für Frau und Sohn, bei dem es für den Mann um die Wiederherstellung seines sich auflösenden Lebens geht, wird nun der Text in verschiedenen Konstellationen, mal chorisch, mal wechselnd monologisch vorgetragen. Das Spiel stellt sich da aber zunehmend in den Variationen als doch recht beschränkt dar. Was man halt so macht beim Kochen. Die Pointen des Textes werden einfach entsprechend bebildert. Fast harmlos lächerlich wirkt hier der wütende Mann, wenn er sich schließlich als einer von Milliarden zum rechten Populisten aufschwingt, für den es zu voll geworden ist auf der Welt, für die er sterben will. Die Armee der Internetkommentatoren steht dann in diesem Spießeroutfit zwar für die ganz normalen Mittelklasse-Abgehängten, die all den Frust, ihre Homophobie und ihren Fremdenhass (irgendwann gibt der Hintergrund auch die Silhouette einer Moschee frei) tagtäglich ins Internet kippen. Mit dem Udo-Jürgens-Song "Heute beginnt der Rest deines Lebens" wird das Potential dieses Mobs aus der Mitte der Gesellschaft und leider auch die Schärfe des Textes endgültig verwässert.




Viel gut essen am Hans Otto Theater Potsdam | Foto (C) Thomas M. Jauk

Stefan Bock - 9. Dezember 2018
ID 11094
VIEL GUT ESSEN (Reithalle, 09.12.2018)
Regie: Marc Becker
Bühne: Harm Naiijer
Kostüme: Alin Pilan
Dramaturgie: Christopher Hanf
Maske: Ute Born, Julia Moritz
Mit: Ulrike Beerbaum, Marie-Therése Fischer, Kristin Muthwill, Mascha Schneider, Philipp Mauritz, Andreas Spaniol und Moritz von Treuenfels
Uraufführung am Schauspiel Köln: 18. Oktober 2014
Premiere am Hans Otto Theater Potsdam: 9. Dezember 2018
Weitere Termine: 13., 21.12.2018


Weitere Infos siehe auch: https://www.hansottotheater.de/


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