Auf der Suche
nach sich selbst
1000 SERPENTINEN ANGST von Olivia Wenzel
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(C) Esra Rotthoff
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Bewertung:
Die Lebenserfahrungen von nichtweißen Deutschen stehen noch lange nicht selbstverständlich auf deutschen Theater-Spielplänen. Auch nicht die der Schriftstellerin und Dramatikerin Olivia Wenzel, 1985 in Weimar als Tochter einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters aus Sambia geboren. Ein Jahr nach dem Erscheinen ihres Debutromans 1000 Serpentinen Angst, der es 2020 auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreis schaffte, feierte Ende August die Bühnenfassung des Romans Premiere im Maxim Gorki Theater. Es ist ein stückweit auch Wenzels Leben, das hier in einer Art autofiktionaler reflexiver Selbstbefragung verhandelt wird. Ein Aufwachsen in der ostdeutschen Provinz mit einer Mutter, die als Punkerin außerhalb der Gesellschaft steht, und mit dem Kindsvater, der im Buch aus Angola stammt, von einem Leben in dessen Heimat träumt und nach dem Scheitern des Traums immer wieder mit dem real existierenden Sozialismus aneinandergerät und auch kaum in der Lage ist, die beiden Kinder (hier sind es Zwillinge) zu erziehen, weshalb neben dem Leben der Mutter auch das der Großmutter der Protagonistin eine große Rolle im Roman spielt.
Auch in der Inszenierung der Regisseurin Anta Helena Recke (bekannt durch die THEATERTREFFEN-Einladungen ihrer Schwarzkopie einer rein weißen Adaption des Romans Mittelreich und der schwarz-feministischen Performance Kränkungen der Menschheit) kommt dem Verhältnis Tochter-Mutter-Großmutter ein besonderes Augenmerk zu. So wünscht einmal die Ich-Erzählerin des Romans „meiner Großmutter und meiner Mutter zu einem unmöglichen Zeitpunkt zu begegnen, an dem wir alle 15 Jahre alt wären“. Aber was sie trennt, ist eben nicht nur das unterschiedliche Alter, sondern auch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Frauen aufwachsen und ihrerseits darin gute und schlechte Erfahrungen machen. Wenzel stellt auch ganz explizit in ihren Rückblicken das Leben der Frauen in den Bezug zu geschichtlichen Ereignissen, wie dem Einmarsch des Ostblocks in die Tschechoslowakei, den Vietnamkrieg oder den Kampf gegen Rassismus in den USA.
All das kommt auch in der Inszenierung Reckes vor, die den Text der Ich-Erzählerin, die sich in einem stetigen Dialog mit sich selbst oder nicht näher bestimmten Befragungssituationen befindet, auf ein Ensemble von sieben DarstellerInnen verteilt. In den durchweg positiven Rezensionen des Romans war auch oft die Rede von der besonderen Eignung des Textes für das Theater, ist doch Wenzel bereits mit Theatertexten über schwarze Deutsche wie etwa Mais in Deutschland und anderen Galaxien (2015 im Ballhaus Naunynstraße) aufgefallen. Nun baut sie das Thema ihres Stücks in dem sehr intimen und schmerzhaften Befragungsmodell des Romans weiter aus. Immer wieder schaltet sie auch Beschreibungen von Bildern und geschichtlichen Ereignissen in den Text. Die Aufteilung auf mehrere Stimmen dient wohl zur Sichtbarmachung der im Roman vorkommenden Personen, oder soll einfach nur den Text für das Publikum interessanter gestalten. Das gelingt leider nur bedingt. Auch der selbstanalytische Ton der Erzählerin, der durchaus auch selbstironische Momente hat, wirkt dabei doch meist sehr melancholisch, wie auch die ganze Inszenierung über zwei Stunden recht behäbig ist.
Als Hauptfigur tritt die meiste Zeit Shari Asha Crosson auf, während die anderen DarstellerInnen in wechselnden Rollen die weitestgehend leeren Drehbühne bespielen, die durch Licht- und Videoeinsatz gestaltet wird, was schön anzusehen ist, aber dem ansonsten recht sparsamen Auftritt nur artifiziell aufpeppt. Das Anliegen der Autorin, das Unbehagen ihrer Ich-Erzählerin mit der sie innerlich zerreißenden Situation als schwarze Deutsche auf der Suche nach einem Ort, wo man selbst die Norm ist, wird durch das divers aufgestellte Ensemble gut wiedergespiegelt. Die Probleme einer Kindheit im Osten Deutschlands und der Nachwendezeit mit latentem und offen aggressivem Rassismus führen die Protagonistin letztendlich auch in eine Depression. Bei Reisen in die USA, nach Marokko oder Vietnam reflektiert sie immer wieder ihre Person, ihre Zugehörigkeit zur schwarzen Community, oder als schwarze Frau in Deutschland. Die oft gestellte Frage: „Wo bin ich jetzt?“ oder „Wer bin ich?“ drücken diese Situation aus. Auch das Verhältnis zum Bruder (Moses Leo), der mit 18 Jahren Selbstmord beging, zum Vater (Falilou Seck) in Afrika, ihre unbestimmte Beziehung zur Geliebten Kim (Mai Thi Tran) oder die Wiederbegegnung der Schwangeren mit ihrer Mutter (Ariane Andereggen) durchziehen lose den Abend, der aber sonst kaum echte theatrale Akzente setzten kann.
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Stefan Bock - 28. September 2021 ID 13171
1000 SERPENTINEN ANGST (Maxim Gorki Theater, 25.09.2021)
von Olivia Wenzel
Regie: Anta Helena Recke
Mitarbeit Konzept & Fassung/Co-Regie: Hieu Hoang
Choreografie/Co-Regie: Jeremy Nedd und Joana Tischkau
Bühne: Marta Dyachenko
Sounddesign: Frieder Blume
Kostüme: Pola Kardum
Dramaturgie: Valerie Göhring
Licht: Gregor Roth
Video: Jesse Jonas Kracht und Matteo Taramelli
Mit: Ariane Andereggen, Shari Asha Crosson, Moses Leo, Hanh Mai Thi Tran, Falilou Seck, Tim Freudensprung und Abak Safaei-Rad
Premiere war am 27. August 2021.
Weitere Infos siehe auch: https://www.gorki.de/
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