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Uraufführung

Das Theaterkollektiv vorschlag:hammer macht im Ballhaus Ost aus Goethes Briefroman eine sparsam-atmosphärische Emo-Light-Show mit Musik



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„Im berühmtesten Werk des Sturm und Drang Die Leiden des jungen Werther eröffnet die Intimität des Briefs den Blick in die Gefühlswelt. Aber wie lässt sich heute darüber sprechen? Wie können im Theater Leidenschaften verhandelt werden? Zwischen R’n’B, Lichtspiel und performativem Sprechen sezieren vorschlag:hammer Goethes Roman - auf der Suche nach ,Fragmenten einer Sprache der Liebe‘.“ So der Vorschautext auf der Webseite vom Ballhaus Ost, das gestern Abend in Kooperation mit dem Ringlokschuppen Ruhr das neue Erzähltheaterstück Die Leiden der jungen Wörter des mit Nachwuchspreisen hochdotierten Hildesheimer Theaterkollektivs um Kristofer Gudmundsson, Gesine Hohmann und Stephan Stock zur Uraufführung brachte. Dazu hat sich vorschlag:hammer den Songwriter, Sänger und Pianisten Frieder Hepting zur musikalischen Unterstützung geholt.

*

Die Leiden der jungen Wörter nannte in den 1970er Jahren auch der Wiener Schriftsteller und Theaterkritiker Hans Weigel ein von ihm verfasstes, sprachkritisches Antiwörterbuch. Weigel zog damals allerdings nicht gegen Goethes Sprachungetüm in Briefen ins Feld, sondern gegen sogenannte Wortneuschöpfungen und den Verfall der deutschen Sprache im Allgemeinen. Damit beschäftigt sich vorschlag:hammer nun aber gerade nicht. Der Titel führt also diesbezüglich erstmal in die Irre. Wer oder was hier leidet, soll sich performativ aus dem Vortrag des Textes erschließen. Dazu wird dieser wechselnd von allen vier Mitspielern präzis und fast emotionslos vorgetragen. Zur Einstimmung gibt es aber erstmal einen satten Elektrosound vom Mischpult, das am Rand der Spielfläche steht und ebenfalls wechselnd von allen bedient wird. Ansonsten schauen die vier Spieler zunächst recht erwartungsfroh in ihren etwas nerdigen Strickjacken und Stickblusen ins Publikum. Die fehlende spielerische Atmosphäre wird mittels gezielter Lichteffekte wie Dimmen, Blacks, an die Rückwand mit Spots geworfenen Schattenspielen oder gar an langen Kabeln schwebenden Einzelleuchten erzeugt.

Fragmentarisch und sparsam wirkt der Abend dann nicht nur durch die fast statische Spielweise, die nur aus einzelnen Wechseln im Lichteinfall und Standort der Spieler besteht, sondern auch im Vortrag selbst, der in ca. 90 Minuten natürlich nur Bruchteile des Textes wiedergeben kann. Diese Textfragmente sollen nun den jungen Werther und Verfasser der Briefe an seinen Freund Wilhelm als eine Art Ich-bezogenen Mensch im Diskurs mit sich selbst beschreiben. Dazu bringen die vier Werther-Erzähler einige treffende Episoden mit dessen unglücklicher Liebe Lotte dar. Werther im idyllischen Wahlheim, Werther in der Natur und dann immer wieder Werther mit Lotten. Ihr Kennlernen vor dem Ball, das emotionsgeladene Gewitter, Freuden gemeinsamer Interessen, Geburtstagsgeschenke und intime Gespräche. Aber es folgt auch die Ernüchterung, dass es da noch einen anderen im Leben Lottes gibt. Ihr Albert ist für Werther Freund und Rivale in einem. Dabei werden Goethes Worte auch etwas modifiziert, was aber nicht zu einem Fall für Hans Weigel wird.

Unterbrochen wird der Vortrag immer wieder durch gefühlvoll vorgetragene Songs in englischer Sprache. Goethes Originaltext in Pop. Ein paar gespielte Gefühlsausbrüche erlauben sich die Werther-Darsteller dann allerdings auch noch. Etwa wenn sich Stephan Stock als Schmerzensmann Werther, der von der Heirat Lottens mit Albert gehört hat, immer wieder auf den Boden wirft, oder Gesine Hohmann sich begeistert an einzelne für Werther freudige Episoden mit der von ihm Angebeteten erinnert, dann aber urplötzlich wieder in den klagenden Depri-Modus zurückschaltet. Und um diese in der Ich-Form verfassten Wellenbäder der Emotionen geht es auch. Werther nicht nur als Ego- sondern auch als Emo-Shooter, der er allerdings in der allgemeinen Rezeption und somit auch in der Vorstellung der Jugend immer schon war. Die Ich-Bezogenheit mit gleichzeitiger Sucht nach Zweisamkeit ist natürlich auch Ausdruck der Gefühlswelt unserer heutigen, neoliberalen Gesellschaft. Jedes neue Pollesch-Stück berichtet davon.

Das Team beruft sich hier auch auf Roland Barthes und sein Buch Fragmente einer Sprache der Liebe. Ein ABC des empfindsam liebenden Subjekts. Dafür scheinen die Beschreibungen des sich verschmäht fühlenden Werthers natürlich wie geschaffen. Allerdings wird bei diesem performativen Erzählexperiment nie wirklich klar, was uns das Ganze eigentlich soll? Man kann sich natürlich an die zum Teil wunderschön und düster vorgetragenen Balladen halten, die Goethes Wörter in der englischen Übersetzung von R.D. Boylan zu musikalisch-poetischen Popperlen verdichten. Ob einem diese Art der atmosphärisch erzeugten Emotionalität Goethes Werther näherbringt oder gar eine Erklärung für den aus den Fugen geratenen Gefühlshaushalt eines unglücklich Verliebten darstellt, bleibt fraglich. Soviel ist sicher, umbringen wird sich hiernach wohl niemand. „And I still continue to breathe” singt der Schlusschor.



Foto (C) Paula Reissig

Stefan Bock - 10. April 2015
ID 8561
DIE LEIDEN DER JUNGEN WÖRTER (Ballhaus Ost, 09.04.2015)
Von und mit Kristofer Gudmundsson, Frieder Hepting, Gesine Hohmann und Stephan Stock
Lichtcoaching: Andreas Greiner und Raul Walch
Produktionsleitung: Juliane Hahn
Video und Fotos: Paula Reissig
Premiere im Ballhaus Ost war am 9. April 2015
Weiterer Termin im Ballhaus Ost: 10. 4. 2015
Eine Koproduktion von vorschlag:hammer mit dem Ringlokschuppen Ruhr in Kooperation mit dem Ballhaus Ost


Weitere Infos siehe auch: http://www.vorschlag-hammer.de/


Post an Stefan Bock

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