Über die sogenannten Kofferkinder der ersten ArbeitsmigrantInnen in Deutschland
ON MY WAY HOME von Hakan Savaş Mican
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Bewertung:
Der Anrufbeantworter springt immer wieder an, Stimmen in türkischer Sprache fragen wiederholt nach Hakan. Aber Hakan wird nicht ans Telefon gehen. Warum eigentlich nicht? Regisseur Hakan Savaş Mican stellt sich diese Frage zu Beginn seines als szenische Installation bezeichneten Doku-Stückes On my way home über das Schicksal der sogenannten Koffer-, Pendel- oder Sommerkinder der ersten ArbeitsmigrantInnen, die seit den 1950er und 60er Jahren aus Italien, Griechenland, der Türkei oder auch Ex-Jugoslawien nach Deutschland kamen.
Hakan Savaş Mican fragt sich auch noch anderes. Zum Beispiel: „Warum fühle ich mich nirgends zu Hause?“ Obwohl als Sohn türkischer Einwanderer 1978 in Berlin geboren, wuchs er bei der Großmutter in der Türkei auf, bis er 1997 zum Studium wieder nach Deutschland zurückkehrte. Aber immer noch plagt ihn das Gefühl nicht anzukommen. Woher kommt diese Unruhe und Rastlosigkeit?
Der Theaterregisseur ist nun den schweren Weg wieder zurückgegangen in die eigene Kindheit und hat in Gesprächen mit anderen Betroffenen nach den Ursachen dieser Gefühle gesucht. Stellvertretend für Tausende dieser Kinder, die zwischen den Ländern und Kulturen, mal bei den Eltern, mal bei Verwandten oder Tagesmüttern aufwuchsen, hören wir Interview-Schnipsel mit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, die aber eines eint, dass sie längere Zeit ohne ihre Eltern leben mussten.
Der Theatersaal des Ballhaus Naunynstraße ist weitestgehend leergeräumt. Das Publikum sitzt an den Rändern. In der Mitte steht ein Flügel, an dem Musiker Enik zur Klaviermusik emotionale Balladen singt und Geräusche sampelt. Vom Band kommt später auch der alte Bluesklassiker "Sometimes I Feel Like a Motherless Child". Dazu sorgen Videoprojektionen von Landschaften, privaten Kinder- und Familienbildern sowie Möwen und Meer als Sehnsuchtsverstärker an den Wänden für einen schönen Gedankenflow. Die Schauspieler Eva Bay und Dejan Bućin performen teils die Interviewparts, daneben werden immer wieder Originaltöne vom Band eingespielt.
Die Griechin Sonja ist eine, die in ihrer Kindheit und Jugend viel hin und her geschoben wurde. Erst mit 40 hat sie selbst ein Kind bekommen. Sonja erzählt von ihren Zweifeln, der Tochter die Liebe schenken zu können, die sie selbst nicht erfahren hat. Der ruhige Edin scheint dagegen seinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht zu haben, obwohl er als 12-14jähriger viel Wut empfand. Mit Yoga und Meditation versucht er die negativen Gedanken los zu werden. Für ihn gibt es heute nichts, was vollkommen perfekt ist.
Krunoslav ist bei seinem Großvater in Jugoslawien aufgewachsen. Er erzählt relativ emotionslos von seiner Kindheit auf dem Land. Ihm hat im Rückblick nichts gefehlt. Der Interviewer Hakan beneidet Krunoslav fast um seine Gelassenheit. Aber immer schwingt in den recht rationalen Berichten des mittlerweile als Ingenieur in Deutschland arbeitenden Krunoslav die Erkenntnis mit, dass es ja irgendwie weitergehen musste, auch ohne die Eltern.
Schließlich reist Hakan in die Türkei zu seiner Familie. Länger redet er mit seiner älteren Schwester Aysil, die sich in der Abwesenheit der Eltern viel um die jüngeren Geschwister kümmern musste und dabei nie richtig Zeit hatte, selbst Kind zu sein. In längeren Gesprächen, die in Ausschnitten wieder vom Band kommen, wird klar, dass auch den Eltern durchaus bewusst war, wie es ihren Kindern ging. Aber sie wollten eben ihr Bestes, Bildung und ein anderes Leben als das ihre. Nur dass das, was sie nach Hause schickten, keine familiären Bindungen ersetzten konnte.
Trotz allem überwieg bei den Kindern neben dem Gefühl der Hilflosigkeit und Wut, die man auch erinnert, der Respekt für die aus schwierigen Situationen heraus zum Arbeiten nach Deutschland gegangenen Eltern. Bei aller persönlicher Emotionalität, die in den Berichten der Interviewten liegt, ist Hakan Savaş Mican aber mit dem sparsamen Einsatz der Theatermittel ein überzeugender Abend gelungen, der nie sentimental wirkt und doch auch die ganz großen Gefühle freilegt.
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Stefan Bock - 7. September 2014 ID 8068
ON MY WAY HOME (Ballhaus Naunynstraße, 05.09.2014)
Regie: Hakan Savaş Mican
Ausstattung: Sylvia Rieger
Video: Benjamin Krieg und Hakan Savaş Mican
Musik: Enik
Sounddesign: Vicki Schmatolla
Dramaturgie: Tunçay Kulaoğlu
Mit: Eva Bay und Dejan Bućin
Uraufführung war am 2. September 2014
Weitere Termine: 7. - 9. 9.2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.ballhausnaunynstrasse.de/
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