Generationenkonflikte, verschiedene Lebensträumen...
MAIS IN DEUTSCHLAND UND ANDERE GALAXIEN von Olivia Wenzel
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Bewertung:
Bereits Ende November 2013 gab es mit RAUŞ im Studio Я die szenische Lesung von mehreren neuen deutschen Stücken, die im Rahmen einer Kooperation des Maxim Gorki Theater mit dem Ballhaus Naunynstraße und dem Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext in einer Literaturwerkstatt am Maxim Gorki Theater entstanden sind. Nun will es der Zufall, dass zwei der damals bereits am weitesten ausgearbeiteten und auch recht vielversprechenden Stücke kurz hintereinander zur Uraufführung kamen. Den Anfang machte am 4. Februar Marianna Salzmanns Stück Wir Zöpfe über generationsübergreifende Beziehungsprobleme sowie eine multiethnische Berliner Weihnachtsfeier am Maxim Gorki Theater. Am 19. Februar folgte nun Mais in Deutschland und anderen Galaxien von Olivia Wenzel. In ihrem Stück kämpft der Junge Noah, als Sohn einer 17jährigen Deutschen und eines angolanischen Vertragsarbeiters in der ehemaligen DDR geboren, ein Leben lang mit sich und den schwierigen Gefühlen zu seiner problematischen Mutter.
Der Schriftsteller Jamal Tuschick hat vor nicht allzu langer Zeit in einer Theaterkritik den Begriff der „ethnischen Differenz zur Mehrheitsgesellschaft“ geprägt; mit einem nicht ganz unähnlichen Hintergrund ist er selbst einst recht deutsch sozialisiert und auch sonst relativ behütet im hessischen Kassel aufgewachsen. - Wie eine dennoch empfundene Differenz noch durch schwerwiegende innerfamiliäre Probleme überlagert wird, beschreibt wohl auch aus eigener Sicht die 1985 in Weimar geborene Dramatikerin Olivia Wenzel in ihrem neuen Stück, das Regisseur Atif Mohammed Nor Hussein im translokalen Kreuzberger Theater Ballhaus Naunynstraße zur Uraufführung brachte.
Noahs Mutter Susanne (Lisa Scheibner) befindet sich als Punk (Meine Herz schimmelt - Sandow) in ständiger Opposition zu den gesellschaftlichen Normen der herrschenden „Mehrheitsgesellschaft“, bestehend aus Ordnungsmacht und den verhassten spießigen Eltern, und hat in ihrem Sohn immer nur die Möglichkeit gesehen, durch eine spätere Familienzusammenführung die DDR verlassen und den behämmerten Eltern endlich entkommen zu können. Sie will Noah bei seinem Vater in Angola abgeben und dann frei sein. Als dieser Plan aus gewissen Gründen (hier spielt auch die Stasi eine Rolle) scheitert, sitzt Susanne endgültig fest, mit einem Kind, das sie weder abgegeben noch geliebt kriegt. Denkbar schlechte Voraussetzungen für ein glückliches Mutter-Sohn-Verhältnis. Selbstmordversuch, Psychiatrie und Fürsorge folgen, Noah wächst dann die meiste Zeit bei seinen Großeltern auf.
Olivia Wenzel erzählt das in zeitlichen Abständen, gezählt nach Noahs Lebensjahren aus Sicht des jeweils 3, 5, 7, 14jährigen usw. Von der Mutter oft alleingelassen, entdeckt der kleine Noah die Umwelt durch den Briefschlitz der Wohnung, hat erste Freundschaften im Ferienlager, psychedelische Kiffererlebnisse mit Kumpel Freddy (Atilla Oener/ Theo Plakoudakis) und ersten Sex mit einer Postangestellten. Als Noah treten hier im Wechsel Dela Dabulamanzi und Toks Körner auf. Die Doppel- und Mehrfachbesetzungen, vor allem gegen den Genderstrich, wählt Atif Hussein auch in der Rolle der Großeltern, die Theo Plakoudakis in einer Person mit Kittelschürze recht witzig verkörpert. Überhaupt nähert sich der Regisseur dem handlungsreich überbordenden Stoff auf eine leicht ironische, spielerische Art. Das kommt schon beim zeitlupenartigen Einmarsch der Protagonisten in kurzen Hosen und Strickjacken zu Ennio-Morricone-Filmmusik (Inglorius Basterds) zum Ausdruck.
Nach der Trennung von Susanne beginnt Noah ein scheinbar normales Leben mit Frau und zwei Kindern. Aber er bleibt lebenslang emotional verkorkst, was sich auch im Dessinteresse an den eigenen Kindern und seinem notorischen Fremdgehen äußert. Irgendwann beginnt Noah seine Probleme in einem Comic zu reflektieren. Diese Handlung läuft nun parallel in einem transparenten Iglu-Zelt ab. Der 35jährige Noah (hier nun Asad Schwarz-Msesilamba) hat für Susanne bei einem Preisausschreiben gewonnen und ist mit ihr auf der Fahrt zu einer Raketenabschussrampe, wo Susanne zum Mond fliegen und endlich frei sein soll. Auf dem Weg läuft ihnen das Mädchen Lila vors Auto, das nun mit seinen Fragen als Spezialistin für Wunden und Katalysator einer Aussprache zwischen Mutter und Sohn fungiert. Isabelle Redfern tritt als schillernde Solo Sunny ins Spiel und hat einen fantastischen Riesen-Hund Pozzo im Schlepptau, der Noah als doppeltes Schattenspiel erscheint.
Der Text hätte sicher Stoff für mehr als ein Stück. Es geht um übliche Generationenkonflikte wie auch um Vergangenheitsbewältigung Marke Ost mit Auszügen aus Observationsprotokollen, Briefen der Jugendfürsorge und Stellungahmen der Eltern, die Noah später von seiner Mutter zugeschickt bekommt. Dass Noah auch Probleme wegen seiner Hautfarbe hat, läuft da mehr am Rande ab, wenn er von einer Horde Skinheads verprügelt oder immer wieder als „Schokobaby“ oder „Schokohase“ bezeichnet wird - neben anderen Äußerungen, v.a. der Großeltern, die üblichen Reaktionen eines wohlmeinenden Alltagsrassismus.
Hauptthema bleibt aber das ungeklärte Mutter-Sohn-Verhältnis, das Noah bis ins hohe Mannesalter nicht geregelt bekommt. Susanne will für die Liebe keine Kompromisse eingehen, die "Löcher in einen machen", wie sie es formuliert. Die Lösung liegt letztendlich nicht einfach darin, Susanne auf den Mond zu schießen. Hier verlieren sich Geschichte und Inszenierung ganz märchenhaft in den Weiten des Andromedanebels. Und die Hoffnung stirbt bekanntlich nicht nur da zuletzt.
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Foto (C) Lena Obst
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Stefan Bock - 21. Februar 2015 ID 8454
MAIS IN DEUTSCHLAND UND ANDERE GALAXIEN (Ballhaus Naunynstraße, 19.02.2015)
Regie: Atif Mohammed Nor Hussein
Ausstattung: Petra Korink
Dramaturgie: Katja Wenzel und Nora Haakh
Mit: Dela Dabulamanzi, Theo Plakoudakis, Lisa Scheibner, Toks Körner, Isabelle Redfern, Atilla Oener und Asad Schwarz-Msesilamba
Uraufführung war am 19. Februar 2015
Weitere Termine: 21. - 25. 2. 2015
Weitere Infos siehe auch: http://www.ballhausnaunynstrasse.de
Post an Stefan Bock
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