FALLEN beschäftigt sich mit der Gewalt im öffentlichen Raum
|
Foto: Esra Rotthoff
|
Bewertung:
Der Start der neuen Spielzeit am Berliner Maxim Gorki Theater (von der Zeitschrift Theater heute zum "Theater des Jahres" gekürt; Glückwunsch!) wurde gestern Abend mit Sebastian Nüblings Tanztheaterprojekt FALLEN, das der Regisseur zusammen mit dem belgischen Choreographen Ives Thuwis entwickelte, begangen. Auf einer Bühne aus 70 Tonnen Sand befragten 10 junge Darsteller Formen von Gewalt im öffentlichen Raum...
*
Extra hierfür ist auf dem Platz vorm Gorki eine kleine Arena errichtet worden - die Simulation eines öffentlichen Raums, wie es ihn bereits zu den Sportwettkämpfen im antiken Griechenland oder aber auch für populäre Vergnügungen in Form von blutigen Kampfspielen im alten Rom gab. Der Hintergrund für diese bauliche Idee (Bühne von Muriel Gerstner) ist ein nicht minder fürchterlicher: Körperliche Gewalt - meist ausgehend von Gruppen junger Männer, die sich ihre Opfer immer wieder scheinbar willkürlich aussuchen. Auch wenn Statistiken belegen, dass Berlin nicht die Hauptstadt der Jugendkriminalität ist, erschrecken doch die Meldungen von der Brutalität, mit der solche Taten begangen werden.
Bekannte Beispiele dafür sind ein 2011 auf einem Berliner U-Bahnhof von Jugendlichen zusammengetretener 29jähriger Mann und der 2012 auf dem Alexanderplatz erstochene 21jährige Jonny K. Die Gründe dafür mögen verschiedenster Natur sein. Soziale Ungleichheit, Ausländerhass, Mangel an entsprechenden Freizeitangeboten, der bloße Kick etc. etc. Alles läuft aber immer auf eine Spaltung der Gesellschaft hinaus, in Arm und Reich oder Stark und Schwach. Alkohol, gewaltverherrlichende Videospiele oder Filme dienen meist nur noch als Verstärker der eh schon latent vorhandenen Gewaltbereitschaft. Da übertönt der Ruf nach mehr Sicherheit in der Gesellschaft schnell den nach ausgleichender Gerechtigkeit.
* * *
Der Abend beginnt mit der szenischen Darstellung einer solchen Tat, indem einer der jungen Spieler von drei anderen zu Boden gerissen und getreten wird. Dazu hört man undeutlich die Stimmen aus einer U-Bahnstation. Danach ist Stille. Die zehn ganz in Schwarz gekleideten jungen Männer beginnen nun in aller Seelenruhen, als wenn nichts geschehen wäre, ein ausgedehntes Lauftraining. Aber der Lauf wird langsam immer schneller, bis alle bei dröhnenden Geräuschen zu gehetzten Sprints ansetzen und sich dann im vollen Lauf immer wieder gegenseitig rempeln, umstoßen, grätschen und mit größtem Körpereinsatz ineinander rennen. Das ganze Spiel wird sich zum Ende hin wiederholen. Wohl ein Ausdruck dafür, dass sich solche Taten jederzeit wieder ereignen können. Ein schier auswegloser, ermüdender Automatismus aus nicht enden wollender Gewalt.
Das ist im Grunde genommen kein herkömmliches Tanztheater. Es wirkt zuweilen wie ein äußerst dynamisches Anti-Aggressionstraining, wenn sich die Spieler gegenseitig schleppen, auch mal umarmen, auffangen oder wieder wegstoßen. Entwickelt sich daraus auch keine echte dramatische Spannung, bleibt alles immer in Bewegung. Die Spannung erzeugen hier im wahrsten Sinne des Wortes die Körper der jungen Männer selbst. Es geht natürlich auch um die Ästhetik und Erotik der Gewalt. Dem Kick beim Fight Mann gegen Mann. Mit Muskelspielen, Breakdance-Solos und beim gemeinsamen Posen (was bei den Zuschauern doch eher für Erheiterung sorgt) provozieren die Männer, demonstrieren ihre Macht, Reizbarkeit und Gewaltbereitschaft. Ausdruck eines gruppendynamischen Prozesses. Echte Tanzeinlagen sind da selten und sorgen für kurze Entspannung.
Der Kampf erzeugt immer auch einen Unterlegenen, das Opfer der Gewalt, das man billigend in Kauf nimmt. Auch das wird hier gezeigt. Demütigung, Umherzerren des Opfers, flehende Schreie, verzweifeltes Eingraben und Boxen in den Sand. Das sind die starken, eindrucksvollen Szenen der Performance. Das titelgebende FALLEN ist hier auch mehrdeutig zu verstehen - als bloßes Umfallen, ohnmächtiges Fallen oder auch Sich-selbst-wieder-Fallenlassenkönnen, als herbeigesehnter Ausweg aus der Gewaltspirale. Ein hilfesuchender Blick der Männer geht hier in Richtung Abendhimmel. Trotz der großen körperlichen Verausgabung aller Spieler glückt es der Inszenierung nur bedingt Gewaltentstehung zu erklären. Sie bleibt ein darstellerischer Versuch, der immerhin ansehenswert ist.
|
FALLEN auf dem Vorplatz des Maxim Gorki Theaters Berlin - Entgegennahme des Schlussbeifall durch die Akteure | Foto (C) Stefan Bock
|
Stefan Bock - 13. September 2014 ID 8090
FALLEN (Vorplatz Gorki, 12.09.2014)
Inszenierung: Sebastian Nübling / Ives Thuwis,
Bühne: Muriel Gerstner
Kostüme: Ursula Leuenberger
Musik: Tobias Koch
Dramaturgie: Katja Hagedorn
Mit: Hassan Akkouch, Tamer Arslan, Mehmet Ateşçi, Jan Bluthardt, Jerry Hoffmann, Taner Şahintürk, Dimitrij Schaad, Aram Tafreshian, Hasan Taşgin und Paul Wollin
Uraufführung war am 12. September 2014
Weitere Termine: 13., 16. - 21., 24., 25., 28., 29. 9. 2014
Die Vorstellungen finden - lt. Veranstalter - bei (fast) jedem Wetter unter freiem Himmel statt. Um das Tragen passender Kleidung wird gebeten. Einweg-Regencapes und Decken stehen zur Verfügung.
Weitere Infos siehe auch: http://www.gorki.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
DEBATTEN & PERSONEN
FREIE SZENE
INTERVIEWS
PREMIEREN- KRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
URAUFFÜHRUNGEN
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|