Falk Richters
Je suis
Fassbinder
in Paris
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Falk Richters Je suis Fassbinder | Foto (C) Jean-Louis Fernandez
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Bewertung:
„Ich mache kein politisches Theater, Politik machen die Leute draußen auf der Straße“, sagt Stanislas Nordey, der zusammen mit Falk Richter das Stück Je suis Fassbinder am Théâtre National de la Colline inszeniert hat, am Ende des Publikumsgesprächs.
Das Stück beginnt in einer hitzigen Debatte mit Alkohol und Zigaretten. Diskutiert wird über die Silvesternacht in Köln und über die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Das Thema ist politisch, Merkel habe sich mit ihrer Willkommenspolitik getäuscht, denn die Flüchtlinge seien viel zu viele, sie seien nicht registriert und vergewaltigen die deutschen Frauen. Wir würden jetzt wiederfinden, was den deutschen Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg durch russische Soldaten wiederfahren ist. Angelehnt ist die Szene an ein Gespräch von Fassbinder mit seiner Mutter, die, verkörpert von Laurent Sauvage, ihrem durch Angst gesteuerten Unmut freien Lauf gibt. Dementgegen argumentiert Stanislas Nordey, der mal Stan ist und mal Rainer, mit steigender Fassungslosigkeit gegen diesen sozialen und politischen Rechtsruck, der sich im heutigen Europa vollzieht.
Das Stück wirkt wie Fassbinders Werk Deutschland im Herbst, in dem teils dokumentarisch, teils szenisch über die von Angst und Unsicherheit geplagte Gesellschaft der RAF-Jahre in Deutschland erzählt wird. Schon im Titel des Stücks wird eine Parallele zwischen den 70er Jahren und der heutigen Zeit geschaffen. "Je suis Charlie" war nach den Anschlägen auf die Satire-Zeitung Charlie Hebdo der Leitspruch einer Bewegung der Solidarisierung mit den Werten der Demokratie, die den Terroristen und den Gegnern dieser Werte entgegenstanden. So wird die Relevanz von Fassbinders Werken in die heutige Zeit gehoben. In einer zehnminütigen Szene wird wieder und wieder "Je suis, je suis" mit beängstigender Musikunterlegung fast vorwurfsvoll vorgebetet. Ich bin Europa. Der Traum der Wirklichkeit wird. Alles, was Sie wünschen und alles, um meinen Reichtum zu beschützen. Eine Armbanduhr von Montblanc. Ich lasse kleine Kinder für mich in China arbeiten. Der 40er Holländische Populist, der sagt, dass die Moslems die größte Bedrohung der europäischen Gesellschaft seien. Marine le Pen. Ein System, das die Armen ärmer werden lässt und die Reichen reicher, "Je suis Charlie!" und wenn Araber an dem Restaurant vorbei laufen, in dem ich sitze, habe ich Angst und ekel mich. Ich will keine Angst haben, aber manchmal habe ich Angst. Abrupt beendet wird die Szene durch Gelächter, denn ich bin auch „das lächerlichste Lied beim Eurovision Song Contest“. Es macht den Anschein, als wenn das Publikum sich von einer immer mehr bedrückend-aufgezeigten Wahrheit der Orientierungslosigkeit durch diese scheinbare Harmlosigkeit losgelassen fühlt.
Das Bühnenbild besteht aus Podesten auf unterschiedlichen Höhen, mit weißen Flokati-Teppichen, die an Fassbinders Dekor aus Die bitteren Tränen der Petra von Kant erinnern. Die Podeste wirken wie Inseln, auf denen die Fragmente des Stücks spielen, die wie in einem Patchwork zusammen ein Ganzes ergeben. Bilder von Fassbinder und den Charakteren seiner Filme liegen frei auf der Bühne. Videoprojektionen von Fassbinders Originalwerken, dokumentarische Einblendungen von Fassbinders Werdegang erklären dem französischen Zuschauer, wer Fassbinder war und woher er kommt. Auch Szenen aus dem kriegsgebeutelten Syrien werden gezeigt.
Was das Stück nicht schafft, ist, dem Publikum die andere Perspektive zu zeigen. Die eines Flüchtlings oder einer am Rande der Gesellschaft lebenden Person, die offensichtlich von dieser angstgetriebenen Verwirrung diskriminiert wird, wie es Fassbinder in seinen Werken oft erzählt hat. Der Zuschauer hat nicht die Möglichkeit, das sozialpolitische Geflecht aus der außerhalb Europa stehenden Position zu betrachten. Es geht einzig um die Perspektive derjenigen, die schon „drin“ sind.
Nicht, dass die Theaterwelt politisches Theater noch nicht gesehen hat. Spätestens seit Shermin Langhoff und Jens Hillje die Direktion im Maxim Gorki Theater übernommen haben, ist politisches Theater allgegenwärtig und trifft den Nerv auch dieser, die es nur selten ins Theater schaffen. In Frankreich ist das anders. Das Theatersystem En Suite zwingt die Theatermacher zur Planung der Saison rund 18 Monate zuvor. Politisch aktuelle Themen in Stücke zu integrieren ist somit nicht nur schwer, sondern erfordert im besten Fall sehr gute Antizipation des Zeitgeists. Niemand konnte die schrecklichen Ereignisse der letzten zwei Jahre vorhersehen. Umso besser, dass dem eher strengen französischen Publikum nun ermöglicht wurde, die aktuellen Ereignisse auf künstlerischer und nicht aus journalistischer Perspektive zu betrachten. Und es gefällt ihnen. An fast jedem Abend gab es bis jetzt Standing Ovations, was sonst eher die Seltenheit ist. Dieses Stück ist sehr wohl politisch. Von politischem Theater hat Frankreich offenbar nicht genug.
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Falk Richters Je suis Fassbinder | Foto (C) Jean-Louis Fernandez
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[Unser Gastautor Tobias Marian Wollenhaupt (30) ist gebürtiger Berliner und wohnt in seinem fünften Jahr in Paris. Er hat in Berlin, Istanbul und Paris studiert und organisiert (seit 2015) thematisierte Theatertreffen am Théâtre National de la Colline.]
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Tobias Marian Wollenhaupt - 22. Mai 2016 ID 9326
JE SUIS FASSBINDER (Théâtre National de la Colline, 17.05.2016)
Texte: Falk Richter
Inszenierung: Stanislas Nordey und Falk Richter
Mit: Thomas Gonzalez, Judith Henry, Éloise Mignon, Stanislas Nordey und Laurent Sauvage
Dramaturgie: Nils Haarmann
Bühnenbild und Kostüme: Katrin Hoffmann
Musik: Matthias Grübel
Video: Aliocha Van der Avoort
Uraufführung am Théâtre National de Strasbourg war am 4. März 2016
Weitere Termine: 24. - 29., 31. 5. / 1. - 4. 6. 2016
Eine Produktion des Théâtre National de Strasbourg in Zusammenarbeit mit dem Théâtre National de Bretagne – Rennes und dem Théâtre de Vidy, Lausanne, MC2 : Grenoble
Weitere Infos siehe auch: http://www.colline.fr/fr/spectacle/je-suis-fassbinder
Post an Tobias Marian Mollenhaupt
14h15dumat.com
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