Eisenach´sches
Müllern
DIE ENTFÜHRUNG EUROPAS ODER DER SELTSAME FALL VOM VERSCHWINDEN EINER ZUKUNFT am Berliner Ensemble
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Foto (C) Julian Röder
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Bewertung:
Nach dem Aufführungs-Verbot des Stücks Die Umsiedlerin und seinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband der DDR, was faktisch einem Berufsverbot gleichkam, schrieb Heiner Müller 1961 zum Broterwerb das Kriminalhörspiel Der Tod ist kein Geschäft. Der Autor verwendete damals als Pseudonym den Namen Max Messer. Das Hörspiel wurde 1962 für den DDR-Rundfunk produziert, mehrfach gesendet und liegt in dieser Fassung seit 2004 auch als Hörbuch vor. Die Story handelt von zwei sich in den 1950er Jahren bekriegenden Gangstersyndikaten im Vergnügungsparadies Las Vegas. Ihr Geschäft sind Rauschgifthandel, Prostitution und Glücksspiel. „Ein Geschäft wie jedes andere. Genauso dreckig und genauso sauber. Dabei krisenfest.“ Wer hier überleben will, muss skrupellos sein und darf auch vor Mord und Korruption nicht zurückschrecken. Bis in höchste Kreise lässt man sich hier „das Maul mit Banknoten versiegeln“.
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Der junge Autor und Regisseur Alexander Eisenach nutzt nun Müllers durchaus politisches Kriminalstück als Folie für eine Crime-Noir-Farce mit dem Titel Die Entführung Europas oder Der seltsame Fall vom Verschwinden einer Zukunft. Darin sinnieren ein zu viel Whiskey trinkender Privatdetektiv mit Namen Max Messer (Christian Kuchenbuch), der nebenbei noch Krimiautor mit Schreibblockade ist (Mommsen Block lässt grüßen), und seine Verlegerin Margaret (Kathrin Wehlisch) über den Verbleib von Europa, der vermutlich entführten Ehefrau von Gangsterboss und Zahnarzt Jupiter Kingsby (Peter Moltzen). „Sie wusste zu viel.“ heißt es einmal im trockenen Slang eines Chandler-Romans. Um ihr Verschwinden aufzuklären, beauftragt Europas Schwester Grace (Stephanie Eidt), Messers totgeglaubte Ex, den entgeisterten Privatschnüffler mit der Suche.
„Eine Funktion von Drama ist Totenbeschwörung - der Dialog mit den Toten darf nicht abreißen, bis sie herausgeben, was an Zukunft mit ihnen begraben wurde“, sagte Heiner Müller. „Die Geschichte Europas lässt sich nur als Krimi erzählen. Die Kriminalistik ist eine archelogische Arbeit“, raunt zu Beginn Verlegerin Magret. Soweit der Plot, der sich nicht nur gewaltig nach Heiner Müllers laufend herbeizitierten, nekrophilen Totenbeschwörungen anhört, sondern auch noch mit dickem Zigaretten- und Zigarrenqualm eine möglichst authentische Müller-Atmosphäre schafft. „Der Zweck heiligt die Mittel“, heißt es in Müllers amerikanischer Gangsterstory. Für Eisenachs Tiefenforschungen in Sachen Europa ist Heiner Müller Mittel zum Zweck. Europa als historische Ausgrabungsstätte. Alles bloß eine Frage der richtigen Metapher, oder passenden Müllerpointe.
Man nehme ein bisschen von Mommsen Block, vermixe es mit Ajax zum Beispiel, menge etwas von Walter Benjamins Engel der Geschichte darunter und lande schließlich ohne Auftrag mit dem Fahrstuhl in Afrika. So viel auktoriale Freiheit muss sein. Und so verfährt Eisenachs geistige Müller-Achterbahn mit dem delirierenden Max Messer, der nach einem heftigen Drogencocktail in einer alptraumartigen Wahnnacht tatsächlich nicht wie bei Müller in Peru, sondern auf den Spuren Europas im afrikanischen Kongo, dem Conrad’schen Herz der Finsternis landet. Die Vermessung der Welt als Eroberung und Auslöschung. „Dieser Krimi hat mehr Tote, als Sie an einem Abend unterbringen können.“ Humanität und Fortschritt zu vereinen, bedeutet nur die fortschreitende Barbarei.
Es geht um einen Schädel mit schwarzen Diamanten, Europas koloniales Erbe und mysteriöse Briefe, die Messer nicht deuten kann. Bei Rotwein spricht man von Kartoffelsalat oder Coq au Vin und Hühnergenozid, Kunst und Kulturpessimismus. Die Zukunft Europas speist sich tief aus der Vergangenheit, die man am liebsten nur als restaurierte Schlossfassade sehen möchte. „Geschichte als Standortvorteil.“ Und so watet man hier „knietief im Amalgam“ aus Geschichte und Verbrechen, vom durchgeknallten Gangsterboss Kingsby, den Peter Moltzen herrlich in den Slapstick samt blutiger Wurzelbehandlung treibt, bis zum sehenden Anlageberater (Laurence Rupp). Teiresias meets Wall Street. „Der Preis ist das Orakel.“ Das Zeitalter des Syndikats der Zahnärzte weicht nach der Drecksarbeit dem „Kapitalozän“ der Advokaten und Börsenspekulanten.
„Der Tod ist die unvermeidliche Schattenseite einer Welt, die nichts kennt als ihre eigene Realität. Die ganzen abgehackten Hände, die versinkenden Schlauchboote, die Menschen in den Stacheldrähten, die Hungernden und Versklavten, sie sind nicht etwa das Nebenprodukt unseres Lebens, sie sind dessen Kern“, sagt schließlich die orakelnde Europa (ebenfalls Stephanie Eidt). Das hat Autor Eisenach mit Müllers Hilfe gut erkannt, die Erkenntnis aber nur in eine ulkig-überdrehte Genre-Farce überführt. Eine herrlich böse Clownerie, die der Regisseur mal als echten Film Noir auf einen Gazevorhang projizieren oder in einem mit Schachbrettmuster versehenen Bühnenkasten spielen lässt. Es macht Spaß, dem tollen Ensemble beim Eisenach‘schen Müllern zuzuschauen, aber mehr als ein etwas nebulöses Diskurskauderwelsch mit Volksbühnenanleihen will am Ende nicht dabei rauskommen.
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Die Entführung Europas am BE | Foto (C) Julian Röder
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Stefan Bock - 8. November 2017 ID 10358
DIE ENTFÜHRUNG EUROPAS (Kleines Haus, 31.10.2017)
Regie: Alexander Eisenach
Bühne: Daniel Wollenzin
Kostüme: Lena Schmid , Pia Diederichs
Dramaturgie: Frank Raddatz
Musik: Sven Michelson
Mit: Stephanie Eidt, Peter Moltzen, Laurence Rupp, Kathrin Wehlisch und Christian Kuchenbuch
Uraufführung am Berliner Ensemble war am 21. Oktober 2017.
Weitere Termine: 10., 11., 12., 13., 21., 22., 23.11. / 01., 02., 03.12.2017
Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-ensemble.de
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