Apokalypse
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Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind von Bernhard Studlar am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
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Bewertung:
Weitestgehend Klischee sind die Figuren aus Bernhard Studlars Stück Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind. Der Hausherr einer Dachgeschosswohnung im 8. Stock überrascht bei den Vorbereitungen zu einer Party auf seiner Terrasse einen ungebetenen Gast, eine junge, lebensmüde Frau. Diese findet schnell gefallen an der Situation und zwingt den Gastgeber mit dessen Pistole, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Wer sich am Ende der ausufernden Party von der Terrasse stürzen wird, bleibt dabei offen. Der österreichische Autor lässt im Folgenden eine illustre Gesellschaft von typischen Großstädtern aus der bürgerlichen Mittelschicht aufeinandertreffen. Lauter Nichtraucher, Biofanatiker, Ökokleingärtner, Linksliberale oder Anlagestrategen und vor allem gestresste Eltern am Rand des Wahnsinns, die mit zunehmendem Alkoholkonsum ihre Kontenance fahren und es danach umso mehr krachen lassen.
Werden die Szenen zwischen dem Gastgeber (Dirk Lange) und der jungen Frau (Sophie Hottinger) immer wieder per Video eingespielt, hat Hausregisseurin Claudia Bauer für die Gespräche auf der eigentlichen Party dann eine fast schon geniale Idee. Während ein Teil der in neonfarbenen Satinkleidern steckenden SchauspielerInnen am Rand die Texte per Mikro einspricht, bewegen sich die anderen dazu pantomimisch in immer wieder neuen, teils bizarr durchchoreografierten Szenen. Dabei tragen sie Masken und spielen ihre namenlosen Figuren unabhängig vom Geschlecht, wobei auch die Stimmen teils cross gesprochen oder verzerrt und immer wieder in Loops, fast schon wie ein melodiöser Sing Sang vorgetragen werden.
Ein großartiger Verfremdungseffekt, der tatsächlich auch über den gesamten Abend seine Spannung halten kann. Die sechs SchauspielerInnen Sophie Hottinger, Dirk Lange, Wenzel Banneyer, Tilo Krügel, Annett Sawallisch und Katharina Schmidt lösen sich immer wieder beim Sprechen und Performen ab. Es gibt keine Charaktere, nur ein Typenballett austauschbarer Figuren. Sie wirken wie fremdgesteuert und reagieren in einer körperlich stark überzogenen Dauererregung direkt auf die jeweiligen Gegenüber. Gehetzte ihrer selbst, übermüdet und im ständigen Stress nicht wahrgenommen zu werden. Abhängig voneinander oder dem Handy, das wie ein monströser Hinkelstein an ihnen hängt. Identifizieren kann man sie, wenn überhaupt, nur mittels ihrer ständig wiederholten in Worthülsen gekleideten Satzfetzen.
Dem gegenüber stellt die Regisseurin am Beginn des Abends noch während des Einlasses, kaum bemerkt vom Publikum, Versfragmente aus der Offenbarung des Johannes über die apokalyptischen Reiter in Dauerschleife. Zu einer Art Apokalypse entwickelt sich schließlich auch die ganze Party. Und so sind die folgenden Gespräche lose mit den Schlagworten Hunger, Krieg, Krankheit und Tod überschrieben. Von verhasstem Smalltalk über kleine Komplimente und Sticheleien bei Biobier und asiatisch veganem Essen gerät man schnell in Ekstase über Themen wie Kindererziehung, Biogärtnern, Sex oder Politik und teilt seine Ängste, Psychosen und Coachingversuche. Wobei man sich schnell wieder aus zu anstrengenden, fordernden Beziehungsgesprächen verabschiedet und lieber über sich selbst spricht. Die Partygäste mutieren dabei langsam von Maskenmenschen zu Pelzkopfträgern mit Pestschnabelmasken, und schließlich bleibt auf der zugemüllten Bühne nur noch ein schmatzendes Wurmwesen übrig, während im Video ein großer Komet auf die Stadt zurast. Eine bemerkenswerte Inszenierung und Schauspielleistung, die Appetit auf mehr machen.
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Die Ermüdeten oder Das Etwas, das wir sind von Bernhard Studlar am Schauspiel Leipzig | Foto (C) Rolf Arnold
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Stefan Bock - 21. Oktober 2015 (2) ID 8936
DIE ERMÜDETEN ODER DAS ETWAS, DAS WIR SIND (Diskothek, 17.10.2015)
Regie: Claudia Bauer
Bühne & Kostüme: Andreas Auerbach
Musik: Jonas Martin Schmid
Licht: Veit-Rüdiger Griess
Video: Gabriel Arnold
Dramaturgie: Matthias Huber
Mit: Wenzel Banneyer, Sophie Hottinger, Tilo Krügel, Dirk Lange, Annett Sawallisch und Katharina Schmidt
Uraufführung war am 25. September 2015
Weitere Termine: 1., 29. 11. 2015
Weitere Infos siehe auch: http://www.schauspiel-leipzig.de
Post an Stefan Bock
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