Dogma-
Klassiker
als Stück
DAS FEST - Schauspiel Stuttgart
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Bewertung:
Wenn es nach Armin Petras, dem Schauspielintendanten des Staatstheaters Stuttgart, geht, dann kommt, was in Stuttgart bei der Premiere ausgebuht wird, mit Sicherheit zum THEATERTREFFEN nach Berlin. Wenn Petras tatsächlich eine Regel daraus ableiten wollte, müssten wohl einige Inszenierungen mehr auf dem Einladungsplan der Jury gestanden haben. Der ehemalige Intendant des Berliner Maxim Gorki Theaters hat es, was die Reaktionen des Publikum und der regionalen Kritik betrifft, noch nicht ganz in die Herzen der Stuttgarter geschafft. Da ist eine Einladung nach Berlin pro Jahr allein schon bemerkenswert genug. Gab im vergangenen Jahr der sogenannte „Mut zur Entschleunigung“ den Ausschlag für die Einladung von Robert Borgmanns Onkel Wanja-Inszenierung, die nicht wenige THEATERTREFFEN-Besucher zur Flucht oder in den Schlaf trieb, so dürfte es in diesem Jahr wohl der Mut sein, eine nicht gerade einfache, massenkompatible Geschichte auch noch relativ unkonventionell zu inszenieren.
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Christopher Rüping, ein weiterer der zahlreich in diesem Jahrgang vertretenen tt-Debutanten, hat sich an eine in der Tat ungewöhnliche Adaption des Dogma-Klassikers Das Fest von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov gewagt. Der 1998 entstandene Film erzählt die Geschichte eines Inzests in einer dänischen Hoteliers-Familie. Vater Helge hat die Zwillinge Linda und Christian im Kindesalter sexuell missbraucht, wovon auch die Mutter wusste, was aber später nie wieder zur Sprache kam. Auf der Feier zum 60. Geburtstag des Patriarchen geht Christian an die Öffentlichkeit und hält, ausgelöst durch den Schock des Selbstmords seiner Zwillingsschwester, eine den Vater anklagende Rede. Der Film zeigt über die Zeit von 24 Stunden Christians schweren Kampf für die Wahrheit und gegen die familiäre Verdrängung, bis der aufgetauchte Abschiedsbrief Lindas das Lügengebäude endgültig einstürzen lässt.
Regisseur Rüping reduziert das Personal des Films auf den engsten Kreis der Familie aus Vater, Mutter, Geschwister und Großeltern und lässt seine DarstellerInnen Maja Beckmann, Paul Grill, Pascal Houdus, Matti Krause, Svenja Liesau und Christian Schneeweiß sehr spielerisch an die Sache herangehen. Es wird hier ein großer, ungebremster Kindergeburtstag gefeiert, was man auch als eine Art Familienaufstellung ohne Erwachsene deuten könnte, weshalb dann alle immer wieder in XXL-Pullover mit Großbuchstaben (Kostüme: Lene Schwind) schlüpfen, die ihre momentane Rolle anzeigen sollen. Außerdem wechseln mit den Pullovern auch immer wieder die Rollenzuschreibungen von Opfer, Täter und die der verschiedenen Familienmitglieder. Das ist sicher geschickt gestrickt, wenn es auch immer die Gefahr der Banalisierung des ernsten Themas in sich birgt. Dennoch wirkt das Spiel über die gesamte Zeit nie wirklich platt, und bei aller Infantilisierung bleibt der eigentliche Film-Plot doch erstaunlich gut erkennbar.
Die durch die klaren Dogma-Regeln bestimmte, starre Dramaturgie des Films bricht Rüping durch die Art der Verfremdung und offene Spielanordnung komplett auf. Offen ist auch die Bühne von Jonathan Mertz. Stapel von Stühlen und Tischen werden immer wieder neu arrangiert und als Abgrenzungsbarrieren, Podium für Ansprachen oder Laufsteg für Showeinlagen zu Dance-Beats genutzt. Man beginnt hier bei einer vom gesamten Ensemble vorgeführten Rede nach dem Motto "Jede Familie hat ein Geheimnis", die Geschichte der Klingenfeld-Hansen vom dänischen Özi über Erfinder und Entdecker bis zur dunklen NS-Zeit zu beleuchten. Die SchauspielerInnen gehen dabei in den vollen Körpereinsatz und versuchen auch immer wieder durch direkte Ansprache das Publikum mit einzubeziehen. Es zünden Konfettikanonen, wirbeln Windmaschinen, man erzählt sich unkorrekte Witze, und Matti Krause chargiert seinen „Oppa“ immer wieder ins gnadenlos Mundartliche.
Rüping verliert über dem Klamauk aber nie ganz den Ernst aus dem Blickfeld. Zwischen Slapsticks und Popsongs von Cat Stevens‘ "Father and Son" über "I Follow Rivers" von Lykke Li bis zu "I'll stand by you" von den Pretenders treten immer wieder ruhige Phasen mit intensiven Reden und Dialogen, bevor sich die Party wieder gnadenlos weiter dreht. Figuren werden entlarvt, eingeschüchtert, isoliert oder wieder in den Kreis der schützenden grauen Masse aufgenommen. Der Regisseur macht es einem so nicht gerade einfach, Partei zu ergreifen. Wieder sehr emotional sind eine Badewannenszene, in der Christian seine tote Schwester erscheint, oder wenn sie sich zwischen ihn und seine Liebe Pia drängt. Und auch an den Geschwistern Helen und Michael gehen die Enthüllungen nicht spurlos vorbei. Der Schluss gehört dann noch einmal dem ausgestoßenen Vater und seiner Rechtfertigungsrede aus dem Hintergrund. Ein Zeichen, dass es wohl nie ganz aufhören wird.
Die Inszenierung ist unglaublich dicht, emotional aufwühlend, und die Intensität des Spiels hält einen so bis zum Schluss gefangen. Das ist sicher zeitweise auch schwer erträglich, wobei die Reaktionen des Publikums bei der Premiere in Berlin dann doch recht positiv ausfielen. Wenn auch nicht in allen Szenen gelungen, so bleibt Christopher Rüpings Inszenierung zumindest bemerkenswert kontrovers und wird somit zur ersten wirklichen Überraschung des bisher doch recht vorhersehbar verlaufenden Programms.
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Das Fest am Schauspiel Stuttgart | Foto (C) JU Ostkreuz
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Stefan Bock - 13. Mai 2015 ID 8636
DAS FEST (Haus der Berliner Festspiele, 11.05.2015)
Regie: Christopher Rüping
Bühne: Jonathan Mertz
Kostüme: Lene Schwind
Musik: Christoph Hart
Dramaturgie: Bernd Isele
Mit: Maja Beckmann, Paul Grill, Pascal Houdus, Matti Krause, Svenja Liesau, Christian Schneeweiß und Norbert Waidosch (Pianist)
Premiere im Schauspiel Stuttgart war am 20. April 2015
THEATERTREFFEN-Gastspiel des Schauspiels Stuttgart
Weitere Infos siehe auch: http://www.theatertreffen.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
THEATERTREFFEN
Siehe auch: Das Fest (gesehen in Stuttgart - am 28.06.2014)
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