LETZTE TAGE. EIN VORABEND
Ein Projekt von Christoph Marthaler
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Josef Ostendorf als "ein in der Geschichtsschleife hängengebliebener Europäer" aus Marthalers Letzte Tage. Ein Vorabend an der Staatsoper im Schiller Theater - Foto (C) Bernd Uhlig
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Bewertung:
Die Theater haben es in diesem Jahr sehr intensiv mit hundert Jahre Erstem Weltkrieg, dessen Ausbruch (1914) als ein mahnendes Fanal für Gegenwart und Gegenwärtiges gesehen wird. Die theatralischen Betrachtungsweisen decken dabei alle möglichen "Gemüts- und Stimmungslagen" ab - zumeist sinds Auseinandersetzungen und/oder rechtefreie Nachnutzungen altbekannter oder nicht so altbekannter Vorlagen weltliterarischer Couleur und/oder aus privaten sowie öffentlichen Nachlässen; wir kriegten da z.B. mittels FRONT (Luk Perceval) und The Forbidden Zone (Katie Mitchell) durchaus exzeptionelle Beispiele zum selbständigen Nachdenken gereicht...
Auch Christoph Marthaler tat liefern.
Seine bereits im letzten Jahr durch die Wiener Festwochen in Auftrag gegebene und im dortigen historischen Sitzungssaal des Parlaments dargebotene Performance Letzte Tage. Ein Vorabend - die jetzt die Berliner Staatsoper im Schiller Theater, notdürftiger Weise an die eignen Räumlichkeiten angeglichen (Bühne: Duri Bischoff), nachspielte - hatte zudem den Anspruch, einen weiten Bogen von vor 1914 bis zur Gegenwart zu schlagen; anders macht ja so 'ne künstlerische Rückschau heutzutage auch nicht wirklich Sinn... Sofort werden wir demnach Ohrenzeuge beispielsweise einer zweifelhaften Rede des z.Z. amtierenden Ministerpräsidenten Ungarns, die uns Ueli Jäggi (= "ein an der Auserwähltheit leidender skythonumerisch-etruskischer Hunne"), abenteuerlich auf einem irgendwie fragil scheinenden Baugerüst sich Halt verschaffend, vorträgt, wo es also um vermeintlich "ungarisches Untermenschentum" will sagen Roma sprich "Zigeuner" geht - das klingt schon sehr barbarisch und bedeutet Aufwieglung und Hetze der wohl kriminellsten Art; kann freilich sein, dass diese Rede oder dieser Rede-Auszug zum "fingiert/dokumentarischen" Material, das Stefanie Carp zusammenstellte, zählte.
Ähnlich markerschütternd, wie Josef Ostendorf (= "ein in der Geschichtsschleife hängengebliebener Europäer") die 1894er Wiener Reichstagsrede von Karl Lueger, einem der wohl glühendsten Antisemiten nachkakanischen Zeit, zum Vortrag brachte; Grundtenor dort, dass "natürlich" all diejenigen, denen Antisemitismus vorgeworfen worden war, zu selbigem "naturgemäß" mutierten oder mutieren mussten, denn allein (als Beispiel bloß) dass damals 90 Prozent aller in Wien ansässigen und arbeitenden Advokaten Juden waren, ließ den nicht nur intellektuellen Minderwertigkeitskomplex "der Übrigen" zur prinzipiellen Judenfeindlichkeit erklären usw. usf.
Oder Katja Kolm (= "eine Spitzenpolitikerin mit Jodelkenntnissen"), die, hinter einem Rednerpult auf einer internationalen Pressekonferenz postiert, "ihren" weltanschaulichen FPÖ-Dreck aus sich jodelt.
Man sollte - so der Marthaler'sche Umkehrschluss - den Antisemitismus und Rassismus als UNESCO-Weltkulturerbe begreifen und verstehen; diese querverbinderische Zuspitzung an sich finden wir wiederum dann, was das Theatralische als Ironie betrifft, beinahe hochgenial gedacht.
Doch eigentlich sollte der Abend mehr eine Hommage an elf Komponisten jüdischer Herkunft und deren heute zumeist vergessene Werke sein; von Pavel Haas (1899-1944), Josef Koffler (1896-1944), Erwin Schulhoff (1894-1942) und Viktor Ullmann (1898-1944) wissen wir, dass sie von den Nazis ermordet worden sind... Die Instrumentalisten der Wiener Gruppe (Namen s.u.) spielten hierzu auf. Und Marthaler war dann im dritten Drittel der fast zweieinhalbstündigen Vorstellung, wo er fast "nur noch" mit dieser Musik in pur arbeitete, so gut wie nichts mehr eingefallen, was das Alles szenisch hätte brechen oder kommentieren können.
Ungeduldig und genervt auf Uhren schauend machte sich ein Teil des Publikums - noch vor dem eigentlichen Stückschluss (mit Black out) - auf seinen Heimweg.
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Marthalers Letzte Tage. Ein Vorabend mit Josef Ostendorf, Ueli Jäggi, Clemens Sienknecht, Silvia Fenz, Bendix Dethleffsen, Bettina Stucky, Tora Augestad, Thomas Wodianka, Katja Kolm, Michael von der Heide (v.l.n.r.) an der Staatsoper im Schiller Theater- Foto (C) Bernd Uhlig
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Andre Sokolowski - 4. September 2014 ID 8063
LETZTE TAGE. EIN VORABEND (Staatsoper im Schiller Theater, 03.09.2014)
REGIE: Christoph Marthaler
REGIEMITARBEIT: Gerhard Alt
MUSIKALISCHE LEITUNG: Uli Fussenegger
RAUM: Duri Bischoff
KOSTÜME: Sarah Schittek
LICHT: Phoenix (Andreas Hofer)
DRAMATURGIE | TEXTCOLLAGE: Stefanie Carp
Besetzung:
MEZZOSOPRAN ... Tora Augestad
EINE AUS DER ZEIT GEFALLENE ... Carina Braunschmidt
EIN VERNÜNFTIGER ABGEORDNETER UND PIANIST ... Bendix Dethleffsen
EIN INTEGRIERTER AFROEUROPÄER ... Nelson Etukudo
EINE WIENER DAME VON WELT ... Silvia Fenz
EIN AN DER AUSERWÄHLTHEIT LEIDENDER SKYTHONUMERISCH-ETRUSKISCHER HUNNE ... Ueli Jäggi
EINE SPITZENPOLITIKERIN MIT JODELKENNTNISSEN ... Katja Kolm
EIN IN DER GESCHICHTSSCHLEIFE HÄNGENGEBLIEBENER EUROPÄER ... Josef Ostendorf
BEGRÜSSUNGSPRÄSIDENT UND PIANIST ... Clemens Sienknecht
EINE VERSTÖRTE WELTOFFENE ... Bettina Stucky
PJOTR LESCHENKO ... Michael von der Heide
EIN SENSIBLER LEIDENDER ... Thomas Wodianka
EINE CHINESISCHE REISEGRUPPE ...
DIE WIENERGRUPPE: KLARINETTE | BASSETTHORN ... Michele Marelli
DIE WIENERGRUPPE: AKKORDEON ... Martin Veszelovicz
DIE WIENERGRUPPE: KLAVIER | HARMONIUM ... Hsin-Huei Huang
DIE WIENERGRUPPE: VIOLINE ... Sophie Schafleitner
DIE WIENERGRUPPE: VIOLA ... Julia Purgina
DIE WIENERGRUPPE: KONTRABASS ... Uli Fussenegger
Uraufführung war am 17. Mai 2013 bei den Wiener Festwochen
Berlin-Premiere: 2. 9. 2014
Weitere Termine: 5. - 7. 9. 2014
Eine Produktion der Wiener Festwochen
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsoper-berlin.de
Post an Andre Sokolowski
http://www.andre-sokolowski.de
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