Bach mit
lebender
Schlange,
elliptisch
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LUTHER dancing with the gods im Pierre Boulez Saal | Foto (C) Lovis Ostenrik
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Bewertung:
Am Anfang der politischen Misere Deutschlands steht riesig und fatal Luther, der erklärte Feind des Humanismus. Seine Obrigkeits- und Untertanenideologie bereitete den Boden der deutschen Kleinstaaterei. Er modelte Gottes Wort zum Schwert, mit dem er die Fürsten und ihre Söldnerheere aufhetzte, den verzweifelten Aufstand des gemeinen Mannes niederzumetzeln, zum verräterisch gewitzten Fanal für Ausbeutung und Unterdrückung. Der Prediger des Hasses gegen die Juden, wortgewaltig, hochgelehrt und sangesfreudig, tüftelte ein so gewissenloses wie gläubiges System für den Antisemitismus seiner Kirche aus und biss sich seine Gegner in fanatischer Angst und Wut aus dem Weg, keine Lüge und Denunzierung scheuend. Seine größten Antipoden durchschauten die selbstgebaute Legende vom Protestanten rasch. Erasmus von Rotterdam klagte ihn der Blutschuld an den Bauern an, und der mit ihnen massakrierte Müntzer hatte schon zehn Jahre nach Worms erkannt, dass Luther als Fürstenknecht längst schrittchenweise alles de facto widerrufen hatte, was er vor Kaiser und Reichstag noch behauptete. Luther, der Meisterpropagandist, furor teutonicus, schuf mit genialer Energie eine deutsche Bibel und fromme Lieder, sie stifteten in den vom Papst abgefallenen Landen ein Bekennerband aus gelehrter Innerlichkeit. Dem Volk wurden Schrift und Gesang zu Haus- und Trostmitteln, dem Alltag träumend zu entfliehen.
Wann immer nun Deutschlands Misere sich aufrafft, in katastrophal hybride Wendungen einzubiegen, bemüht sie diese zweifelhafte Reformatoren-Gestalt verklärend. Während die Bundesrepublik ihre Pflegekräfte bis zum Widersinn ausbeutet und miserabel entlohnt, Obdachlose auf den Straßen herumlungern und Langzeitarbeitslose verzweifeln, fließen überquellend Unsummen von Fördergeldern in zahllose Lutherprojekte landauf und landab. Der „Luther-Effekt“ füllt die Kassen. Alles und jeder feiert bis zum Delirium tremens das Jubiläum der Reformation, die Europa für immer spaltete und in einen verheerenden Dreißigjährigen Krieg stürzte. Der ganze Aufwand ist umso immenser, als zeitgleich der Kalender auf 100 Jahre bolschewistische Oktoberrevolution zeigt.
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Offenbar durfte in diesem Ringelreihen auch Theatersuperstar Bob Wilson nicht ausbleiben, der aus den evangelikal dominierten USA kam, in der Hauptstadt des brandenburgischen Protestantismus sein szenisches Scherflein beizutragen. Und bereits im Vorab weiß man schon, dass es „überraschend“ sein wird, obwohl Wilson seit Jahrzehnten im Grunde immer dasselbe macht („visionäre Inszenierungen“ in „einer hochexpressiven Bildersprache“): jedenfalls Dinge, die mit dem Inhalt in der Regel nicht viel zu tun haben, perfekt schön aussehen, niemandem weh tun und bei dem alle das denken können, was ihnen eben dazu einfällt, der dies und jene das oder weniger. Auch dieses Projekt hat einen englischen Titel, und Luther wäre über den höchstwahrscheinlich vor Zorn an die Decke gegangen: LUTHER dancing with the gods… Nur die Götter oder der Neoliberalismus wissen, warum dessen Chefdesigner Wilson das so nannte, war das schicke Event doch gewohnt statisch genug.
Geschickt standen Bach-Motetten neben disparaten Textpassagen und der genialen Paraphrase Immoratal Bach von Knut Nystedt, sowie Steve Reichs unpassender Clapping Music, einer rhythmischen Spaßübung für klatschende Hände ohne weiteren Sinn. - Ich bin nicht sicher, ob die szenische Konfrontation von Bach mit Luther überhaupt mehr als Klischees bedient. Nikolaus Harnoncourt stellte immerhin fest, dass wir so gut wie nichts über den Menschen Bach wissen und nicht einmal, ob er persönlich besonders religiös war (wer dem die Emphase Bach'scher Musik entgegenhalten möchte, sollte sich z.B. Apollos Arie an den „holden, schönen Hyacinth“ ganz genau betrachten, BWV 201). - Jedenfalls gab es Abwechslung, und gleich der Prolog des Wilson-Programms hob gewaltig mit Bibeltexten im griechischen Original an, grandios deklamiert von Lydia Koniordou, Schauspielerin und gegenwärtige Kulturministerin Griechenlands.
Mit Theater hatte das Ganze indessen wenig bis nichts zu tun, die Choreografie der Figuren brachten den Texten und der Musik keinerlei bereichernde Dimension bei, es blieb geschmäcklerisch und kunstgewerblich. Weder Bachs Geometrie noch sein Kontrapunkt haben etwas Mechanisches. Dass der US-Amerikaner mit dem Problem Luther, Reformation, Protestantismus und letztlich auch mit den ausgewählten Meistermotetten Johann Sebastian Bachs nichts weiter anzufangen weiß, wurde eineinhalb Stunden lang überdeutlich. Über das Grundarrangement hinaus gab es keine Idee zu entdecken. Die Einheitsmaskerade mit Renaissance-Touch verbarg keine weiteren Erkenntnisse, die zu quasi lebenden Bildern gerinnenden Zwischenspiele erreichten mit wilhelminischer Pseudotheatralik und Pappmaché-Requisiten eher das Lächerliche. Weder die kleine Teufelskarikatur noch ein Hieronymus-Bosch-Zitat oder eine lebende Schlange vermochten all dem die geringste Dialektik oder Dramatik zu entlocken. Das Programmheft verheißt in seinem an religiöse Indoktrination grenzenden Geschwurbel zwar hochtrabend, Wilsons setze einen „Kontrapunkt zu Bach“, hingegen bügelte die Dauer-Slowmotion mit geziert gestreckten Händen nur alle Plastik, Wortrealistik und Farbigkeit der vielgestaltigen Kompositionen platt. Da hatte es der Rundfunkchor Berlin schwer, das Bach'sche Spektrum in seiner ganzen Tiefe und Universalität aufleuchten zu lassen. Aber er sang überaus brillant und überzeugend und absolvierte dabei diszipliniert die vorgeschriebenen Bahnen und Bewegungen.
So war auch das eigentliche Erlebnis dem Raum geschuldet, in dessen Ovalarena das Publikum bisweilen vom Chor rings umstellt war und das filigrane Stimmengeflecht Bachs in der Tat wie von Innen erhören konnte! Immerhin geriet Wilson dennoch auch ein echt dramatischer Höhepunkt mit seinen beiden Protagonisten, wenn in der Szene („Kneeplay III“) „Streitgespräch“ der großartige Jürgen Holtz deutschen Luthertext und dagegen Lydia Koniordou mit des Vatikans Latein schmetternd sich überkreuzen und übertönen - das war ein starker Moment, erregend, beeindruckend, ausdrucksstark!
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LUTHER dancing with the gods ist die erste szenisch-musikalische Veranstaltung im neuen Boulez-Saal. Dessen originelle, wandelbare und schwungvolle Architektur tanzt sozusagen mit. Im Foyer prangen vielerlei Zitate, etwa: „Um gut miteinander musizieren zu können, muß man in anderen Dingen nicht auf der gleichen Linie liegen“ (Sharon Cohen) - doch ganz so ernst wird das nicht genommen: Der Saal heißt nach dem großen französischen Komponisten, Dirigenten und Lehrer, einem Freund von Chefdirigent Barenboim, Pierre Boulez, nicht nach dem viele Jahrzehnte dem Haus verbundenen großen Komponisten Paul Dessau.
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LUTHER dancing with the gods (im Pierre Boulez Saal, Berlin) | Foto (C) Lovis Ostenrik
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Uwe Schwentzig - 10. Oktober 2017 ID 10308
LUTHER DANCING WITH THE GODS (Pierre Boulez Saal, 07.10.2017)
Regie, Bühne, Licht: Robert Wilson
Co-Regie: Nicola Panzer
Co-Bühne: Annick Lavallée-Benny
Co-Licht: John Torres
Kostüme und Haare: Julia von Leliwa
Make-up: Manu Halligan
Dramaturgie: Habakuk Traber
Besetzung:
A Woman in Black ... Lydia Koniordou
Luther ... Jürgen Holtz
PerformerInnen ... Damen und Herren vom Rundfunkchor Berlin
Violoncello ... Aleke Alpermann
Kontrabass ... Mirjam Wittulski
Orgel ... Arno Schneider
Rundfunkchor Berlin
Dirigent: Gijs Leenaars
Premiere war am 7. Oktober 2017.
Weitere Termine: 10.-12.10.2017
Weitere Infos siehe auch: http://www.rundfunkchor-berlin.de
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