Die Geschichte von Kaspar Hauser vom lettischen Ausnahmeregisseur Alvis Hermanis und ein Fazit zum Abschluss des THEATERTREFFENS
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Das 51. Theatertreffen 2014 in Berlin ist Geschichte. Wir haben 9 sogenannte bemerkenswerte Inszenierungen geboten bekommen. Die Produktion Situation Rooms von Rimini Protokoll wird aus terminlichen Gründen erst im Dezember in Berlin zu sehen sein. Wenn es denn einen einschlägigen Trend der gezeigten Inszenierungen zu benennen gäbe, dann sicher den, dass es heuer schon eines ungewöhnlichen Regieeinfalls bedurfte, um von der TT-Jury für bemerkenswerten gehalten zu werden. Davon sind sicher die Arbeiten Zement des im letzten Jahr verstorbenen Regisseurs Dimiter Gotscheff und Die letzten Zeugen, ein Projekt von Doron Rabinovici und Matthias Hartmann mit Überlebenden des Holocaust, auszunehmen. Hier waren v.a. die Verbeugung vor dem großen Lebenswerk eines verdienten Regisseurs und die Ehrung für eine lebenslange Mission der Zeitzeugen ausschlaggebend.
Was genau die besondere Leistung von Robert Borgmanns Tschechow-Entschleunigung Onkel Wanja war, bleibt Geheimnis der Jury. Man muss auch nicht alles verstehen. Der einzige, der stoisch immer wieder das macht, was man letztendlich auch von ihm erwartet, ist Frank Castorf. Auf seine fiebrig verschwitzten Bühnenabenteurer mit ihren hochhackigen Kreischattacken ist Verlass. Bei seiner durchaus unterhaltsamen mehrstündigen und weltumspannenden Abhandlung über Krieg, Kolonialismus und Kapitalismus anhand des tausend Seiten umfassenden Celine-Aufregers Reise ans Ende der Nacht regte letztendlich aber nur die aus dem Programmheft abgekupferte Einladungsbegründung eines der Jurymitglieder wirklich auf.
Aber ob es nun das Playbacksprechen in Susanne Kennedys beklemmender Inszenierung von Marieluise Fleißers Stück Fegefeuer in Ingolstadt war oder die fast komplette Sprachverweigerung in der Sofafarce mit Musik Ohne Titel Nr. 1 von Herbert Fritsch, die Klamotten- und Identitätsverwechslungen bis zur totalen Konfusion der Zuschauer und Darsteller in Karin Henkels Kleist-Verwuselung Amphitryon und sein(e) Doppelgänger oder Alain Platels Tänzchen auf mit Klamotten zugemüllter Bühne, das als Tauberbach auch noch lauthals als Plagiat und kolonialer Fetisch bezeichnet wurde. Ihnen allen ist sicher eines gemeinsam, der Wille mit scheinbar Ungewohntem aufzufallen und die Sehgewohnheiten des Publikums anständig zu verwirren.
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Noch einen Regieeinfall der besonderen Art gab es dann zum Ende des THEATERTREFFENS mit der Züricher Inszenierung Die Geschichte von Kaspar Hauser vom lettischen Ausnahmeregisseur Alvis Hermanis. In den letzten Jahren ist er v.a. mit detailversessenen, zeitgetreuen Ausstattungs- und Kostümwerken [Così fan tutte an der Komischen Oper Berlin, beispielsweise] aufgefallen. So auch bei seiner letzten TT-Einladung mit Tschechows Platonov und nun mit dieser im wahrsten Sinne des Wortes miniatürlichen Kleinstarbeit. Auf der Hinterbühne der Berliner Festspiele ist ein merkwürdiges Setting aufgebaut mit vier Klavieren, einem Sandkasten, einer später enthüllten biedermeierlichen Puppenstube und einem weißen Pony, das vor Aufregung scharrte, die Nüstern blähte und den Bühnenboden nässte.
Der „rätselhafte Findling“ Kaspar Hauser, der aus nie geklärten Gründen ungefähr 16 Jahre isoliert in einem Kellerverließ aufwuchs und 1828 wie aus dem Nichts auf dem Marktplatz von Nürnberg auftauchte, wird hier von dem kleinwüchsigen Laienschauspieler Roland Hofer aus dem Buddelkasten gegraben. Der mysteriöse Fremde, der den ungelenken Schlacks nun mühsam das schrittweise Laufen lehrt, ist aber nicht der einzige, dem der Kaspar-Hauser-Darsteller Jirka Zett an diesem Abend an Körpergröße überlegen ist. Die Nürnberger Bürgerschaft, die den kindlichen Riesen nun neugierig beäugt und ausfragt, besteht nämlich ausschließlich selbst aus Kindern, die man aber auf erwachsen geschminkt und in Biedermeiergeh- und -reifröcke gesteckt hat.
Verkehrte Welt hin oder märchenhafte Parabel auf die wirkliche Welt her, das detailverliebte Theater des Alvis Hermanis ist immer noch für eine Überraschung gut, auch wenn es beim THEATERTREFFEN selbstredend keine echte mehr sein kann. Geführt wie Puppen von der schwarzen Hand erwachsener Schauspieler im Hintergrund, die ihnen auch die Worte in den Mund legen, beginnt das Völkchen der Kleinbürger den Zögling nun einer regelrechten Bildungstortour zu unterziehen. Hermanis Texterin Carola Dürr stützt sich bei ihrer Fassung vor allem auf die zeitgenössischen Schriften von Georg Friedrich Daumer, dem Lehrer von Kaspar Hauser, oder von dessen Vormund dem Rechtsgelehrten Anselm Ritter von Feuerbach. Dazu werden noch Texte von Werner Herzogs Filmadaption und Originalzitate von Kasper Hauser selbst eingestreut, was dem Ganzen eine zusätzliche Eigentümlichkeit verleiht.
Hausers unverdorbene Ursprünglichkeit und Naivität weckt gleichermaßen Neugier, Beschützerinstinkte wie auch Gelüste der Kaffee trinkenden, über Gott und Rousseau hobbyphilosophierenden Kleinbildungsbürgergesellschaft. Als der Schützling schließlich aber sein eigenes Ich erkennt, zaghaft Ängste, Wünsche und Begehrlichkeiten äußert und sogar selbst beginnt Fragen zu stellen, lässt man ihn fallen wie ein Spielzeug, an dem man das Interesse verloren hat. Das Ende vom Lied - der zurechtgezogene Sonderling fällt der Bürgerschaft plötzlich nur noch zur Last und wird schließlich von ihr ausgestoßen. Man bleibt weiter unter sich und fiedelt wieder an der eigenen Hausmusik. Und auch Kasper Hauser ist der Zurichtungen müde und kriecht wieder in seinen Sandkasten zurück. Eine nette Parabel auf die Nebenwirkungen gutbürgerlicher Erziehungsmethoden, die in der moralischen (Puppen)Anstalt genannt Theater auch ihr berechtigtes Zuhause hat. Eigentlich hätte es auch der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann getan. Vielleicht die nächste Regieclou.
Bewertung:
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Sicher waren auf dem THEATERTREFFEN insgesamt wieder überwiegend professionelle Regiearbeiten mit in Teilen darstellerischen Höchstleistungen zu bewundern. Und der Vorsprung der Theaterstadt München vor dem Rest des deutschsprachigen Raums hat sich schon allein qua Einladungszahl (und auch in Preisen ausgedrückt) mindestens verdoppelt. Der Anbruch der Morgendämmerung für das Theater als zukünftiges Leitmedium, wie vom Chef der Berliner Festspiele Thomas Oberender bei der Eröffnungsveranstaltung versprochen, war das aber leider noch nicht. Gewollte Künstlichkeit siegte ein ums andere Mal über das dramatische Entfalten einer Geschichte, die länger als 90 Minuten fesseln kann. Die übergroße Hand der Regie war doch immer wieder deutlich spürbar.
Und so verwundert es nicht, dass die Alleinjurorin für den Alfred-Kerr-Darstellerpreis des THEATERTREFFENs, Edith Clever, bei ihrer Laudatio viel Lob für die Schauspieler übrig hatte, aber auch von der Willkür des Regisseurs sprach. „Wie angenagelt an ihre Plätze standen“ die Schauspieler bei Susanne Kennedy, bemerkte sie. In Robert Borgmanns Onkel Wanja sei die Rolle der Sonja „von der Regie in ihrem Reichtum nicht gestaltet“, und auch die körperliche Verausgabung bei Frank Castorf lässt wenig Differenzierung zu. Die Wahl der Clever fiel letztendlich auf eine Darstellerin, deren Rolle in Heiner Müllers Zement es so eigentlich gar nicht gibt. Die Njurka der Valery Tscheplanowa: „naiv und kämpferisch, immer klar und leuchtend“ - bezauberte sie gleich zu Beginn. Und daran hatte nun mit Sicherheit auch die Regie ihren Anteil, auch wenn das die einstige Schaubühnendiva nie zugeben würde. Schlussendlich sind die alten Zeiten wohl endgültig vorbei. Man kann das begrüßen oder bedauern, vermissen wird man sie ebenso wenig, wie auch einige der gezeigten Inszenierungen.
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Preisverleihung an Alvis Hermanis für Die Geschichte von Kaspar Hauser - Foto (C) Stefan Bock
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Stefan Bock - 20. Mai 2014 ID 7843
DIE GESCHICHTE VON KASPAR HAUSER (Schauspielhaus Zürich)
Regie und Bühne: Alvis Hermanis
Kostüme: Eva Dessecker
Musik: Jakabs Nimanis
Dramaturgie: Andrea Schwieter
Mit: Jirka Zett, Isabelle Menke, Milian Zerzawy, Franziska Machens, Ludwig Boettger, Chantal Le Moign, Patrick Güldenberg, Roland Hofer und sechs Kinderdarstellern
Premiere am Schauspielhaus Zürich war am 16. Februar 2013
http://www.schauspielhaus.ch
Termine beim Theatertreffen: 17. + 18. 5. 2014
Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinerfestspiele.de
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
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