34. Mülheimer Theatertage, Mülheim, 21. Mai und 02. Juni 2009
Elfriede Jelinek: Rechnitz (Der Würgeengel) / Oliver Bukowski: Kritische Masse
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Eines ist sicher, Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ bekommt man nicht mehr aus dem Ohr nach der Vorstellung von Oliver Bukowskis Stück „Kritische Masse“, in Szene gesetzt von Sebastian Nübling. Vivaldis wohl bekanntestes Werk erklingt nicht nur im Zuschauerraum der Mülheimer Stadthalle, wo „Kritische Masse“ im Rahmen der Mülheimer Theatertage 2009 zu sehen war, sondern auch in Hamburg hinter dem Hauptbahnhof. Hier ist in den U-Bahn-Schächten klassische Musik zu hören, wohl auch, um dem Ambiente aus Obdachlosen und Drogenabhängigen etwas entgegenzusetzen.
Die Ausgangssituation in Nüblings Inszenierung vom Hamburger Schauspielhaus ist klar: 15 Menschen stehen vor dem Arbeitsamt an, allesamt am Rande des sozialen Spektrums. Eine gescheiterte Akademikerin will etwas verkaufen, ein junger Mann steht nur seiner Mutter zuliebe in der Schlange. Eine andere Mutter schiebt frustriert ihr Baby im Kinderwagen umher und raucht eine Zigarette nach der nächsten. Schnell strebt Nübling mit seinem durchweg hervorragenden Schauspielensemble zu einer Sangriaparty, bei der sich alle hemmungslos betrinken können. Danach noch ein Bier, noch einen Schnaps, noch einen Kurzen. Dazu einen schlechten Witz erzählen und dann noch einen. Spät besinnen sich die Anwesenden und damit auch die Inszenierung darauf, dass Protest gegen ihr Dasein als willenlose Masse möglich ist. Protest, nur wie? Lichterkette, nackt ausziehen, wütende Parolen? Leider interessiert das zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, da eine Stunde lang nichts passiert ist und man als Zuschauer schon darüber nachdenkt, wann der Abend wohl ein Ende findet.
Es springt nichts über, die Sorgen der Figuren interessieren nicht, weil sie nicht erzählt werden. Auch das Thema Gruppendynamik ist früh verbraucht. Das Ganze hat etwas von Zoo: Wir beobachten Schauspieler, die hervorragende Milieustudien abliefern. Die soziale Sprengkraft dieser „kritischen Masse“ entfaltet sich so nicht. Nur gepflegte Langeweile.
Ganz anders Jossi Wielers Inszenierung von Elfriede Jelineks „Rechnitz (Der Würgeengel)“. Fünf Boten erzählen die Ereignisse einer Nacht im März 1945. In Rechnitz im österreichischen Burgenland feierte Gräfin Margit Batthyány, geborene Thyssen, auf ihrem Schloss ein Fest mit Nazi-Größen, in dessen Verlauf fast 200 jüdisch-ungarischen Zwangsarbeiter von den Partygästen ermordet wurden. Jelinek erzählt die Ereignisse nicht nach, sondern präsentiert sie in einem Botenbericht, bei dem gilt, dass auch die Boten nicht ohne Hintergedanken und neutral erzählen, sondern ein ureigenes Interesse an dem Bericht haben, nicht die Wahrheit sagen, verschweigen, abschweifen, schwadronieren und vor allem nicht immer politisch korrekt sind. Wie André Jung ausführt, dass man nicht mehr übers Deutschsein reden darf – und welche Auswirkungen das hat –, ist frappierend, spannend, provokativ. Enthält aber eben auch ein Körnchen Wahrheit.
Mal sind die Boten Diener, mal Herrschaften, stets mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen, im lockeren Plauderton, der in einem krassen Gegensatz zu dem steht, was sie schildern. Dazu erklingt lässige Barmusik. Manche Dinge mögen in Jossi Wielers Inszenierung etwas plakativ geraten sein, beispielsweise die Gewehrsalven, die gegen Mitte des Abends erklingen, in Kombination mit den schalldämpfenden Kopfhörern, aber in seiner Einfachheit ist der Abend bestechend: Etwa wenn plötzlich ein Haufen Gewehre aus der Ecktür fällt und später Nerzmäntel auf die Bühne fliegen, um dort einen Klamottenhaufen zu bilden, der Tätern wie Opfern gehören kann.
Die Ereignisse entstehen im Kopf des Betrachters – wer übrigens an einem Gegenbild interessiert ist, das die Geschehnisse auf die Bühne holt, sei an Tilman Knabes Inszenierung von „Samson und Dalila“ an der Kölner Oper verwiesen (http://www.buehnenkoeln.de/stueck.php?ID=140). Knabe lässt das Bachanal, in dem die Pharisäer die gefangenen Hebräer erniedrigen, mit deutlichen Anklängen an die Rechnitz-Ereignisse ablaufen: Die Pharisäer in eleganter Abendkleidung, wie sie sich vom Zuschauerraum gut gelaunt und angetrunken auf die Bühne ergießen, die halb verhungerten und um ihr Leben fürchtenden Hebräer aus allen Ecken der Bühne hervorziehen, sie misshandeln, demütigen, vergewaltigen und ermorden. Hier nehmen die Geschändeten in Gestalt von Samson Rache, diese Möglichkeit bietet Jelinek nicht.
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Oliver Bukowski
Kritische Masse
Regie: Sebastian Nübling
Bühne und Kostüme: Magda Willi
Musik: Lars Wittershagen
Mit: Marion Breckwoldt, Marlen Diekhoff, Jörn Knebel, Juliane Koren, Hedi Kriegeskotte, Marie Leuenberger, Martin Pawlowsky, Tim Porath, Michael Prelle, Jana Schulz, Tristan Seith, Lydia Stäubli, Daniel Wahl, Samuel Weiss, Kaspar Weiss, Sören Wunderlich
Uraufführung Schauspielhaus Hamburg am 19. Februar 2009, weitere Termine am: 17.06., 03.07.09
Weitere Infos unter: http://www.schauspielhaus.de/spielplan/detail.php?id_event_cluster=416832&id_language=1
Elfriede Jelinek
Rechnitz (Der Würgeengel)
Regie: Jossi Wieler
Bühne und Kostüme: Anja Rabes
Dramaturgie: Julia Lochte
Musik: Wolfgang Siuda
Licht: Max Keller
Mit: Katja Bürkle, André Jung, Hans Kremer, Steven Scharf, Hildegard Schmahl
Uraufführung Münchner Kammerspiele am 28. November 2008, weitere Termine am: 10., 16., 22.06. und 10.07.09
Weitere Infos unter: www.muenchner-kammerspiele.de
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Karoline Bendig - red. / 6. Juni 2009 ID 00000004333
Weitere Infos siehe auch:
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