Here we are now, entertain us
Versuch eines Fazits
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Mit Soeren Voimas Molière-Überschreibung Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie in einer Inszenierung des Staatsschauspiels Dresden von Volker Lösch ging gestern Abend das Berliner Theatertreffen 2022 zu Ende. Leider auch das ein Beispiel dafür, wie schwer sich das Theater momentan tut, komplexe politische Zusammenhänge auch entsprechend darzustellen, ohne das Publikum zu Tode amüsieren bzw. langweilen zu wollen. Nun sind ja Komödien nicht das schlechteste Mittel, unbequeme Wahrheiten an den Mann oder die Frau zu bringen. Aber wer von der THEATERTREFFEN-Jury für bemerkenswert erachtet werden wollte, musste für diese Ausgabe bis auf ein paar kleine Ausnahmen nicht nur originelle zeitgeistige Texte oder einen mitsingfähigen Soundtrack am Start haben, sondern mindestens auch in der Ausstattung ordentlich klotzen.
Das trifft neben der inhaltlich und theatral eher mageren Dante-Verzwergung Das neue Leben von Christopher Rüping, der sich damit seine Frage nach dem beklagten Publikumsschwund nach der Pandemie höchst selbst beantwortet hat, auch für die Inszenierung Like Lovers Do von Pınar Karabulut oder der Überschreibung von Schillers Die Jungfrau von Orleans durch Joanna Bednarczyk und Regisseurin Ewelina Marciniak zu. Die Autorin modernisiert die romantische Schillersche Jungfrau mit heutigem Sprech und reflexiven Zwischentexten, die die Frau hinter dem Männer-Klischee der heiligen Heroin zu finden versuchen, aber neben der Entlarvung einer zumeist misogynen Rezeption auch viel banalen Gefühlskitsch transportieren. In der Regie von Ewelina Marciniak wird viel rumgestanden, mit Videobildern gearbeitet und zwischendurch erklärt, aber wenig gespielt. Am ehesten bleiben da noch die lustigen archaischen Kampfchoreografien in Erinnerung. Gibt es tatsächlich mal einen radikalen Text wie den der Dramatikerin Sivan Ben Yishai, der explizit sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen thematisiert, dann wird dieser von einer lustigen und bonbonfarbenen Ausstattungsarie übermalt. Der Hang zur queeren Popästhetik überlagert dabei mehr und mehr den Inhalt. Am besten schneidet da noch die musikalisch choreografierte Umsetzung von Jandl-Texten in der Inszenierung humanistää! von Claudia Bauer ab. Text, Spiel und Musik ergänzen sich kongenial zu einem Gesamtkunstwerk und versuchen nicht, sich gegenseitig zu übertrumpfen.
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Die Jungfrau vin Orleans am Nationltheater Mannheim | Foto (C) Christian Kleiner
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Musik und Ausstattung sind auch das Erfolgsrezept von Yael Rones Songspiel Slippery Slope, das zwar vorgibt nur fast ein Musical zu sein, es aber dennoch voll und ganz ist. Und sogar eines, das aktuelle Debatten wie Metoo, Cancel Culture und Cultural Appropriation verhandeln will. Wem das zu viel Englisch war, sollte gar nicht erst in die am Gorki-Theater zum Publikumsrenner avancierte Inszenierung gehen. Gesungen und gesprochen wird hier nämlich in der bevorzugten Musical-Sprache. Wer der nicht mächtig ist, muss mit den sehr weit oben angebrachten deutschen Übertiteln vorlieb nehmen und verpasst derweil wohl das bunte Treiben auf der Bühne, das sich um das Comeback des abgehalfterten Schlagersängers Gustav dreht, der zudem noch all das, was momentan zum sofortigen medialen Shitstorm und zur entsprechenden Cancelung führt, verbrochen hat. Damit ist er dann aber nicht ganz allein. Hier versuchen von der jungen aufwärts strebenden Popsängerin über die Frau und Managerin Gustavs bis zur eifrigen Investigativ-Journalistin alle ihr mediales Erfolgs-Süppchen zu kochen. Das ist recht plakativ aufbereitet und durchgehend nicht gerade sehr komplex. Auch hier geht das Konzept des unbedingten Amüsements über das der textlichen Schärfe.
Zurück zum Dresdner Molière. Man soll ja nicht immer nur nach hinten schauen und dem Theater von früher nachhängen. Auch Volker Lösch hat schon wesentlich politischeres Theater gemacht. Er ist ja auch ein Vertreter des alten Regietheaters, das heute auf dem THEATERTREFFEN kaum noch eine Rolle spielt. Der neue Text von Soeren Voima orientiert sich aber nicht am Agit-Prop eines Volker Lösch, sondern eher am aktuellen diskursiven Trend, der versucht alte Stoffe des Theaterkanons neu aufzudröseln und auf Tauglichkeit hin zu überprüfen. Dass uns dieser Text fast retrospektiv in die bundesdeutsche Vergangenheit führt, die anhand einer Kommune die Zeit ab den 80er-Jahren der aufkommende Kohl-Ära über die Wende und die rot-grüne Schröder-Regierung bis in die Zeit des Bankencrashs die Neoliberalisierung von Politik und Wirtschaft auf spaßige Art verhandelt, ist aller Ehren wert. Auf der sich beständig drehenden Hausbühne wird aber etwas zu klischeehaft der Niedergang des kommunalen Projekts zu Gunsten eines individuellen Runs nach Glück und Reichtum durchgespielt. Ein Kreis von bunten Typen aus dem Molière-Kosmos fällt hier auf den als Mephistopheles des Kapitals agierenden Verführer Tartuffe herein. Nach fast drei Stunden Klamotte werden dann noch die interessanten Texte des französischen Ökonomen Thomas Piketty für ein gerechteres Steuersystem und die Schaffung eines aus der höheren Besteuerung oberer Einkommen gewonnen Erbes als Startkapital für alle über die Rampe geschoben. Da wäre eine engere Verschränkung mit dem Stücktext sicher besser gewesen.
Bei diesen großen Ausstattungsarien fallen die kleinen aber durchaus feinen kammerspielartigen Inszenierungen der 10er-Auswahl, die nicht nach dem großen Entertainment schielen, fast ein wenig hinten runter. Hervorzuheben wäre da vor allem die Inszenierung der Bühnenfassung des Romans Ein Mann seiner Klasse von Christian Baron. Ein Text über das wenig behandelte Thema von Klassismus und fehlenden Bildungschancen für Kinder sozial schwacher Schichten, den Regisseur Lukas Holzhausen sehr einfühlsam und eindrücklich in Szene setzt. Auch das Stück All right. Good night. von Helgard Haug, das die Rimini Protokoll-Mitstreiterin selbst am HAU 1 inszenierte, verbindet Text und Musik zu einem besonderen Theatererlebnis. Die Autorin, die mit ihrem Stück auch nach Mülheim eingeladen wurde, setzt den über mehrere Jahre dauernden kognitiven Verlust des an Demenz erkrankten Vaters in Beziehung zum Verschwinden des Malaysia Airlines-Flug MH370 und der vergeblichen Suche nach Spuren der vermissten Passagiere. Dass das Publikum über weite Strecken der Inszenierung den auf einen Gazevorhang projizierten Text selbst lesen muss, gehört sicher zu einer besonderen Herausforderung, der sich über 2,5 Stunden nicht jeder gewachsen fühlt. Dagegen sind die 75 Minuten der minimalistischen Inszenierung Doughnuts des japanischen Regisseur Toshiki Okada fast schon kurzweilig zu nennen. In jedem Fall ist das Publikum nach zwei Jahren pandemischen Darbens wieder hungrig nach Bühnenkunst. Here we are now, entertain us.
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Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie am Staatsschauspiel Dresden Foto (C) Sebastian Hoppe
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PS: Die Inszenierung Die Ruhe vom Performance-Kollektiv SIGNA am Hamburger Schauspielhaus gastierte nicht in Berlin, konnte daher nicht gesehen werden und ist nicht Bestandteil des Fazits.
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Stefan Bock - 23. Mai 2022 ID 13637
https://www.berlinerfestspiele.de/de/theatertreffen/start.html
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