Liebe im
Zeichen von
Aids
Wenn Schwule Geschichte(n) erzählen
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Plakatmotiv zu Das Vermächtnis am Residenztheater München | © Detail aus Philipp Gufler „Quilt #29 (Dirkje Kuik)“, 2019 Courtesy BQ, Berlin
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Bewertung:
Am Anfang steht das Ringen um einen ersten Satz. Zu Beginn des zweiteiligen Maxi-Bühnenepos Das Vermächtnis von Matthew Lopez (45) – gefeiert im Londoner Westend und am Broadway - befinden wir uns in einem queeren Autorenworkshop. Stories drängen hervor, wollen erzählt werden. Doch womit beginnen? Ein Mann aus einer anderen Zeit taucht auf. Es ist kein Geringerer als E.M. Forster, ein Autor der viktorianischen Ära, der das Thema Homosexualität zwar behandelte, es aber nicht offen anzusprechen wagte. Doch nun wird Forster als kundiger Mentor der Gruppe das Stück begleiten, kommentieren, vorantreiben. 100 Jahre nach Forster und 25 Jahre nach Tony Kushners Engel in Amerika (derzeit ebenfalls im Residenztheater zu sehen) greift es die Geschichte der Schwulenbewegung auf, wird ihr „Vermächtnis“.
Lopez installiert eine ebenso komplexe wie rasante Langzeitstudie über schwule Männer, die drei verschiedenen Generationen angehören. Im Mittelpunkt der homosexuellen community steht zunächst das Paar Eric und Toby, zwei Mittdreissiger in einer schicken Wohnung. Sie führen mit ihren Freunden ein angenehmes Leben im intellektuellen und queeren New York, wo man als Schwuler inzwischen auch heiraten und Kinder adoptieren kann. Doch im Klima des erstarkenden Populismus der Trump- Ära verändert sich ihre soziale, politische und private Situation. Toby, bisher eher ein Loser, macht Broadway-Karriere mit einem verlogenen Schwulen-Stück. Vor seinen eigenen Wahrheiten aber läuft er davon und verlässt seinen Freund, der ihn unangenehm daran erinnert: „Mein Herz ist rein, es ist nur dummerweise immer umgeben vom Rest von mir.“ Eric dagegen freundet sich mit dem älteren Walter an, einem „Überlebenden“ der HIV-Epidemie der 80er Jahre. Immer tiefer dringt er ein in eine Vergangenheit, die geprägt ist von ständiger Todesangst, Verlust und Trauer. Walter vermacht Eric schließlich sein Landhaus (ein Ort, den Lopez bei Forsters Howards End entlehnt hat), wo er vielen Aidskranken ein würdiges Sterben ermöglichte. Eric wird diese versöhnliche, heilende Tradition des Hauses erst ganz am Schluss weiterführen können, weil Walters Lebensgefährte dieses ganz konkrete „Vermächtnis“ vorerst nicht anerkennen will. Er - ein reicher Republikaner - hat sich von Walter distanziert aus Angst, er hole ihm mit seiner Fürsorge die Krankheit ins Haus. Traumatisiert und verpanzert in seinen Gefühlen bringt er Sex und Liebe nicht mehr zusammen. Die Beziehungskrisen der vielen Figuren spiegeln die Krise eines ge spaltenen, unversöhnten Landes.
Beim Ringen um den ersten Satz hat Mentor Forster noch helfen können. Beim Ringen um Verantwortung, Ehrlichkeit und Wahrheit in Teil 2, den Zeiten des Lügenpräsidenten Trump, muss er passen. Das ist allein Sache der jungen Generation, die sich mitunter ironischer Distanz bedient. So malt etwa ein gewisser Tucker perfekte Bilder, nur um sie nach Fertigstellung zu zerstören - sein „in Wahrheit“ künstlerischer Akt: denn ihre Schönheit sei „falsch“, weil eskapistisch. Und doch steht am Ende die Vision einer Gemeinschaft voller Respekt und Toleranz.
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Berührende Schicksale, so messerscharfe wie witzige Dialoge, so verwirrend wie spannend parallel geführte Figuren tragen den großen, durchaus unterhaltsamen Abend von 7 Stunden (der zweite Teil allerdings hätte wohl Kürzungen vertragen). Ein nachhaltiges Erlebnis auch dank des hervorragenden Ensembles und der feinfühligen Regie von Philipp Stölzl. Viel Beifall und standing ovations für die Schauspieler*innen Vincent zur Linden, Florian Jahr, Vincent Glander, Noah Saavedra, Patrick Bimazubute, Simon Zagermann, Nicola Mastroberardino, Thimo Strutzenberger, Moritz von Treuenfels, Michael Goldberg, Oliver Stokowski, Nicole Heesters.
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Vincent zur Linden und Moritz Treuenfels in Das Vermächtnis am Residenztheater München | Foto (C) Sandra Then
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Petra Herrmann - 7. Januar 2023 ID 13990
DAS VERMÄCHTNIS I/II (Residenztheater München, 06.01.2023)
von Matthew Lopez
Inszenierung und Bühne: Philipp Stölzl
Kostüme: Kathi Maurer
Komposition: Ingo Ludwig Frenzel
Licht: Gerrit Jurda
Mitarbeit Bühne: Franziska Harm
Dramaturgie: Ewald Palmetshofer
Besetzung:
Junger Mann/Adam/Leo ... Vincent zur Linden
Junger Mann/Jason 1/Charles Wilcox/Tobys Agent/Pförtner 1 ... Florian Jahr
Junger Mann/Junger Henry/Mann/Dealer/Pförtner 2 ... Vincent Glander
Junger Mann/Junger Walter/Tucker/Henrys Assistent ... Noah Saavedra
Junger Mann/Tristan/Assistent des Agenten ... Patrick Bimazubute
Junger Mann/Jasper/Paul Wilcox/Anderer Agent ... Simon Zagermann
Junger Mann/Jason 2/Klinikmitarbeiter ... Nicola Mastroberardino
Junger Mann/Eric Glass ... Thiemo Strutzenberger
Junger Mann/Toby Darling ... Moritz Treuenfels
Morgan/Walter Poole ... Michael Goldberg
Henry Wilcox ... Oliver Stokowski
Margaret ... Nicole Heesters
Premiere war am 30. Januar 2022.
Weitere Termine: 15.01./ 04., 05.02.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.residenztheater.de/
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