Zwei Fälle von feministischer
Bearbeitung alter Dramenstoffe
in München
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Die Welle feministischer Bearbeitung von Texten aus dem allgemeinen Dramen-Kanon ist derzeit voll am Laufen. Sie überrollt nicht gerade die deutschsprachigen Theaterhäuser, aber allerorten findet man nun Stücke auf den Spielplänen, die sich mit der Aufwertung bisher zu kurz gekommener weiblicher Rollen, deren radikal neunen Betrachtung und feministischer Umdeutung in den Dramen von Shakespeare, Goethe, Büchner oder Ibsen beschäftigen. So nun auch in München, wo sich die Schweizer Regisseurin Claudia Bossard den wohl meistgespielten deutschen Bühnen-Klassiker, den Faust von Johann Wolfgang von Goethe, und die deutsche Regisseurin Felicitas Brucker Henrik Ibsens berühmte weibliche Dramenfigur Nora zur Neubewertung vorgenommen haben.
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Am Münchner Volkstheater steht mit Feeling Faust, das gesamte zweiteilige Werk Goethes, aber auch der berühmte deutsche Dichter und Dramatiker selbst zur Debatte. Goethe hat sich fast sein gesamtes Leben mit dem Faust-Stoff beschäftigt. Herausgekommen ist ein gesellschaftliches Opus Magnum, das besonders im zweiten Teil viele der heutigen Probleme des Fortschritts, des Kapitalismus und der Zerstörung der Umwelt vorausnimmt. Mit dieser Inszenierung wollten Claudia Bossard und ihr Team nun auch eine feministische Sicht auf den Faust-Stoff entwerfen, wie es im Vorschautext des Volkstheaters heißt. „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“ lautet die optimistische Pointe des Dramas. Ist das heute noch so, oder muss man den Stoff anders lesen?
Oder muss man ihn überhaupt noch lesen, ist die erste große Frage des Abends, der mit einer gespielten ExpertInnenrunde von LiteraturwissenschaftlerInnen an der Rampe beginnt. Goethes Klassiker ist in den meisten Bundesländer wie auch Bayern kein Abiturstoff mehr. Ist er „ein Fall für die Ewigkeit oder ein ewiger Fall in die Tonne?" Das wissenschaftliche Geplänkel befasst sich also mit der Relevanz des Dramas aber auch mit Goethes Italienreisen und seinen jugendlichen Potenz-Problemen. Da vergisst der Moderator öfter die Namen der weiblichen Diskutantinnen, die wiederum feministisch nachlegen im Stile der britischen Journalistin und Autorin Laurie Penny.
Dieses nette Literatur-Kabarett ist mit gut einer Dreiviertelstunde aber viel zu lang für den nur zweistündigen Abend, so dass den TheoretikerInnen nach einem “Habe nun, ach!“-Seufzer von Bühnenarbeitern das Mobiliar unterm Hintern weggezogen werden muss und alle in panischer Konfusion auf der nun offenen Bühne von Elisabeth Weiß zurücklässt. Was sich danach herausbildet, ist eine den Faust-Text dekonstruierende Nummernrevue aus Zitaten und lustigen Regieeinfällen, wie einen als zweifelnd fragender Schüler auftretenden Darsteller Reclam-Hefte apportieren zu lassen.
Zumindest ein bisschen queer wird es auch noch wenn Steffen Link und Jan Meeno Jürgens sich in einem Gretchen-Faust-Dialog anschmachten und nach einem Goethe-Macho-Monolog von Steffen Link die geballte Weiblichkeit in bunten Kostümen (Andy Besuch) aufmarschiert. „Feelings, Nothing more than Feelings“ ist das etwas dünne Fazit dieser Faust-Verwurstung, die video-ästhetisch zwar auf der Höhe der Zeit ist, der Komplexität des Textes aber mit viel Brimborium aus dem Weg geht.
Bewertung:
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Feeling Faust am Münchner Volkstheater | Foto (C) Gabriela Neeb
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Mit Yung Faust hatte sich bereits 2019 Leonie Böhm an den Münchner Kammerspielen an einem jugendlich frischen Sampling an Goethes Dramentext versucht. Nun unter der neuen Intendanz von Barbara Mundel bringt Felicitas Brucker Ibsens Nora als Thriller mit zusätzlichen Texten der Dramatikerinnen Sivan Ben Yishai, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic auf der Bühne des Schauspielhauses. Eine Neubefragung der „Ikone Nora“, in die im Laufe der Zeit viel hineininterpretierten wurde. Ibsen als ersten feministischen Dramatiker zu lesen, scheint da ebenso überholt, wie die vermeintliche Emanzipation Noras, die ihren Mann am Ende verlässt.
Wie es weiter gehen könnte, hatte Elfriede Jelinek bereits 1977 mit ihrem dramatischen Debüt Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften verhandelt. Hier macht sich das Schauspielteam schon zu Beginn über die Aufführungspraxis Gedanken. Wer steht wo in der Besetzungsliste. An Nummer eins Noras Mann Torvald Helmer, über dessen Namen sich die anderen Figuren definieren, eben als Frau, Freund Helmers, oder auch Kindermädchen im Haus Hellmer. Der Prolog von Sivan Ben Yishai kommt hier als ironische, den Theaterbetrieb befragende Leseprobe daher, an deren Ende Katharina Bach als Nora auf den Tisch steigt und das Patriarchat zum Teufel wünscht. Das ist ein knalliger Einstieg, aber noch ohne echten dramatischen Knalleffekt.
Den setzt das aufwendige Bühnenbild von Viva Schudt, das ein in die Schräge umgekipptes Haus zeigt, den eigentlichen Hauptdarsteller einer sich tatsächlich dramatisch entwickelnden Handlung, bei der echter Ibsen-Text neben dem neuen von Gerhild Steinbuch und Ivna Žic steht. Letztere hat einen bedrückenden Text über die drei Kinder Noras geschrieben, bei dem Svetlana Belesova, Vincent Redetzki und Thomas Schmauser immer mal wieder aus den Öffnungen des Hauses kriechen und wie Untote in Kaputzenjacken das Drama aus Sicht der der Mutter beraubten Kinder schildern.
Florian Seufert lässt flirrende Videobilder über die Fassade flimmern, was das Haus erst recht zum gruseligen Haunted House macht, auf dessen Schräge sich das Drama um Noras einstige Verfehlung, die gefälschte Unterschrift ihres bereits verstorbenen Vaters auf einem Schuldschein, entspinnt.
Katharina Bach beherrscht darin die Szene als vom entlassenen Buchhalter Krokstad (windig: Thomas Schmauser) in die Enge getriebene Frau, die um ihr Glück mit Ehemann Torvald regelrecht körperlich kämpft und alle Höhen und Tiefen des Bühnenbilds und Gefühlslebens erklimmt, oder auch mal als düstere Rockröhre brilliert. Zur Seite hat sie nur ihre alte Freundin Christine (Svetlana Belesova). Edmund Telgenkämper gibt den künftigen Bankdirektor als gönnerhaften Ehrenmann, der seine Frau nicht wirklich ernst nimmt. Vincent Redetzki spielt den todkranken Doktor Rank als großen schwärmerischen Gefühlsmenschen. In einer letzten Szene tritt er vor dem nach oben geklappten Bühnenbild als Eishockeyspieler in schwarz auf und lässt sich selbst vom kräftigen Telgenkämper nicht von der Bühne zerren. Schließlich müssen aber beide ihre Besitzansprüche aufgeben.
Das beengende Haus löst sich am Ende hinter feurig leuchtendem Gazevorhang auf und gibt Raum für Nora und ihre Befreiungsrede. Das in die Jahre gekommene Drama um kompromittierende Briefe und eine Frau zwischen drei sie bedrängenden Männern würde hier auch ganz ohne die sie begleitenden Texte überzeugen können. Das Gesamtbild eines den alten Text befragenden Dramen-Refreshs kommt aber vor allem spielerisch wesentlich positiver zur Geltung als im Münchner Volkstheater.
Bewertung:
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Nora an den Münchner Kammerspielen | Foto (C) Armin Smailovic
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Stefan Bock - 30. Oktober 2022 ID 13883
FEELING FAUST (Münchner Volkstheater, 28.10.2022)
Regie: Claudia Bossard
Bühne: Elisabeth Weiß
Kostüme: Andy Besuch
Künstlerische Mitarbeit Kostüme: Frank Salewski
Video & Sound: Annalena Fröhlich
Dramaturgie: Katja Friedrich
Licht: Björn Gerum
Mit: Luise Deborah Daberkow, Carolin Hartmann, Jan Meeno Jürgens, Maral Keshavarz, Alexandros Koutsoulis, Steffen Link, Janek Maudrich und Liv Stapelfeldt
Premiere war am 28. Oktober 2022.
Weitere Termine: 07., 26., 28.11. 2022
NORA (Münchner Kammerspiele, 29.10.2022)
Regie: Felicitas Brucker
Bühne & Kostüme: Viva Schudt
Musik: Markus Steinkellner
Licht: Christian Schweig
Video: Florian Seufert
Dramaturgie: Tobias Schuster
Mit: Katharina Bach, Svetlana Belesova, Vincent Redetzki, Thomas Schmauser und Edmund Telgenkämper
Premiere war am 7. Oktober 2022.
Weitere Termine: 07., 13., 30.11.2022
https://www.muenchner-volkstheater.de/
https://www.muenchner-kammerspiele.de/
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