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Castorfopern (39)

"Nie wieder

Kokain"



Artemis Chalkidou und Andreas Döhler in Frank Castorfs Kleiner Mann - was nun? am Berliner Ensemble | Foto (C) Jörg Brüggemann

Bewertung:    



Ob Hans Falladas Kleiner Mann - was nun? nach den Wahlergebnissen in Thüringen und Sachsen ein aktueller Stoff für ihn wäre, wurde Frank Castorf (73) von Rüdiger Schaper im Tagesspiegel vor paar Tagen befragt, und der Befragte antwortete so:


"Wenn alle in ihrer Blase sagen, wir sind Antifaschisten, dann ist die nächste Frage: Wie lange bleiben sie Antifaschisten? Wann bekommen sie Angst? Und dann heißt es eben: Kleiner Mann - was nun? Wie lange reicht der Mut, das menschliche Ethos, die Moral, wenn es um den Job geht, die Kohle, die bürgerliche Existenz? Wie lange bin ich gegen das Regime, wenn es darum geht, anderen Menschen zu helfen?"


Viel interessanter allerdings schien mir die nachgesetzte Frage Schapers, ob er (Castorf) Fallada mögen würde:


"Fallada war einer, der immer irgendwie durchgekommen ist mit seiner Kriminalität und Drogensucht. Ich finde ihn im Grunde zu gemütlich, zu niedlich, zu murkelig, in seinen eigenen Worten. Er benennt die politischen Dinge nie wirklich, er geht ihnen aus dem Weg, und darin, glaube ich, liegt sein Erfolg begründet. Goebbels mochte ihn sehr. Fallada schrieb aber auch expressionistische Texte mit brutalen Fantasien, die bauen wir ein. Sein Ich war gespalten." (Gespräch mit Rüdiger Schaper, Tagesspiegel v. 11.09.2024)


Also ist es nicht die dichterische Qualität des besagten Fallada-Romanes, die den Castorf zu der aktuellen Großoper (Dauer: 5 h 15 ' inkl. Pause nach den ersten zweieinhalb Stunden) "inspirierte", sondern mehr oder weniger das sich bereits im Romantitel verselbständigt habende Thema an sich; ja und wir Castorfkenner und -fans hätten da auch nichts anderes erwarten wollen.

*

"Das junge Elternpaar Pinneberg und Lämmchen hält an seiner Liebe und am Glauben an eine bürgerliche Moral fest – trotz Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Härte. Ihr Kampf um einen letzten Rest Würde endet am Rand des Molochs Berlin. Hans Fallada fasst seinen international erfolgreichen Roman, welchen er 1932 in Zeiten von höchster wirtschaftlicher und politischer Anspannung in Deutschland nur zensiert veröffentlichen konnte, so zusammen: 'Ehe und Wehe von Johannes Pinneberg, Angestellter, verliert seine Stellung, bekommt eine Stellung, wird endgültig arbeitslos. Einer von sechs Millionen, ein Garnichts, und was der Garnichts fühlt, denkt und erlebt.' Die Frage 'Was nun?' wurde historisch von der Machtergreifung der Nationalsozialisten beantwortet. Die Frage, wie wirkungsvoll individueller Zusammenhalt in einer Massengesellschaft sein kann, beantwortete Fallada mit einem utopischen Moment." (Quelle: Berliner Ensemble)



Gabriel Schneider, Maximilian Diehle und Pauline Knof (v.l.n.r.) performen Bewusstseinserweiterungen in Frank Castorfs Kleiner Mann - was nun? am Berliner Ensemble | Foto (C) Just Loomis


Castorf benutzte also den Romantext (Ursprungsfassung) als wie autofiktionale Texte Falladas, die dieser im Gefängnis oder in der Psychiatrie verfasste, wie z.B. Die Kuh, der Schuh, dann du. Ja und so etwa fifty-fifty ging es dann in seinem Stück a) um besagte Handlungsabschnitte aus Kleiner Mann - was nun? und b) um Fallada als Schriftsteller und Mensch, alles dann überwürzt mit (wie bei Castorf üblich) Fremdtexten (z.B. Schlacht von Heiner Müller) und viel, viel "thematischer" Musik ("Nie wieder Kokain" von Faber, "Alt Moabit" von Wouter van Bemmel, "Arleta" von Mia Fora Thymamai, "Die ganze Welt ist himmelblau" mit Peter Kraus, "With the dark hug of time" von Colin Stetson & Sarah Neufeld usw. usf.).

Er holte, so wie eh und je, das Maximale aus dem ihm zur Verfügung stehenden Schauspielerinnen- und Schauspieler-"Material" heraus - im Publikum entdeckte ich, rein zufällig, paar Altgediente seiner früheren Volksbühnenfamily: Sophie Rois, Katrin Angerer, Frank Büttner, auch Jeanne Balibar (!) war da. Ich fragte mich, ob sie entweder froh oder traurig wären, dass sie diese anstrengenden Texte-Massen, die er ihnen immer zumutete, nicht mehr aus sich sondern müssten, und sie mussten schließlich dieses viele Textzeugs vorher erst noch auswendig lernen und begreifen, doch wahrscheinlich sind sie beides, also froh und traurig zugleich. Nun, jetzt sind halt die anderen mal dran: Artemis Chalkidou, Maximilian Diehle, Pauline Knof, Maeve Metelka, Gabriel Schneider; alles Leute vom BE-Ensemble, die bei ihm noch nicht zuvor gespielt hatten. Auch Jonathan Kempf (!!) zählt mit dazu, der war dann aber schon bei Castorfs Fabian (2021) in Aktion und lieferte dann dieses Mal, als Fallada-Ego, einen geradezu expressionistischen Extra- und Eröffnungsauftritt der absoluten Sonderklasse, Schauspielkunst vom Allerfeinsten!

Und Andreas Döhler - der hinwieder und zuvörderst - war bereits in den drei vorigen BE-Großopern, die der Castorf seit 2017 am Schiffbauerdamm gewuchtet hatte, mit dabei (Les Misérables, Galileo Galilei, Fabian oder Der Gang vor die Hunde). Ja, er gehört seither zu Castorfs innererem Kreis; beim wohlwollenden Schlussapplaus war er derjenige, den Castorf am wohl innigsten und auffälligsten herzte, und so musste der Verlegene mit seinen Tränen kämpfen... Schönes Bild.

Müßig, all das Gesehene/ Gehörte hier an dieser Stelle chronologisch nachzuerzählen. Die Faszination der Castorf-Inszenierungen besteht seither darin, das jeweils von ihm dramaturgisch angezettelte Groß-Durcheinander in seiner wiederum perfekt anmutenden Geordnetheit auf sich wirken zu lassen. Und ob das alles, was er uns da jemals sagen wollte, bei uns ankommt, liegt im Auge (und im Ohr, versteht sich) des Betrachters.




Gabriel Schneider, Pauline Knof, Maeve Metelka, Jonathan Kempf, Andreas Döhler, Artemis Chalkidou und Maximilian Diehle (v.l.n.r.) in Frank Castorfs Kleiner Mann - was nun? am Berliner Ensemble | Foto (C) Jörg Brüggemann


* *

Aleksandar Denićs Bühnenbild - bestehend aus der Rückwand auf der Hinterbühne, einem großen roten Lappen und zwei imposanten LED-Leinwänden - kam dann diesmal sparsamer daher als sonst, aber nur scheinbar, denn: Hinter der Rückwand baute er eine regenbogenfarbene Herrensakko-Auslage des Kaufhaus' Mandel mit angrenzendem sowie im schönsten Kachelgrün gebautem Duschkabinenelement, und von der Unterbühne (unterhalb der Drehbühnenmechanik) aus wurden so gegen Schluss des Stückes in Schwarz-Weiß diverse Kriegerwitwendialoge (höchstwahrscheinlich aus der Müller-Schlacht) auf die zwei LED-Leinwände übertragen; hierfür waren Andreas Deinert, Kathrin Krottenthaler, Harald Mellwig (an den Live-Kameras) sowie Jonathan Bruns, Theo von Mechow (an den Tonangeln) zuständig.

Adriana Braga Peretzkis Haute Couture war wiederum ein echter Hingucker; ihre Klamotten stehen ihren Trägerinnen und Trägern allemal perfekt, in ihnen sehen die Betroffenen besonders geil aus.

Es gab, was den Spiel- und Sprechfluss anbelangte, durchhängende Längen, also Zwischenzeiten, die man nutzen konnte, um ein bisschen abzunicken; aber das ist nebensächlich, denn:

Ein neuerliches Castorf-Großereignis war(d) geboten worden.

Gut und wichtig, dass es das noch gibt.


Andre Sokolowski - 15. September 2024
ID 14917
KLEINER MANN - WAS NUN? (Berliner Ensemble, 14.09.2024)
Regie: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Sounddesign: William Minke
Licht: Rainer Casper
Videokonzeption: Jens Crull und Andreas Deinert
Live-Schnitt: Jens Krull und Verena Butmann
Dramaturgie: Amely Joana Haag
Künstlerische Produktionsleitung: Sebastian Klink
Mit: Artemis Chalkidou, Maximilian Diehle, Andreas Döhler, Jonathan Kempf, Pauline Knof, Maeve Metelka und Gabriel Schneider sowie Andreas Deinert, Kathrin Krottenthaler und Harald Mellwig (an den Live-Kameras) als auch Jonathan Bruns und Theo von Mechow (an den Tonangeln)
Premiere war am 14. September 2024.
Weitere Termine: 15., 21., 22.09./ 19., 20.10.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.berliner-ensemble.de


https://www.andre-sokolowski.de

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