Krieg
im Kopf
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Sören Wunderlich (links) und Christoph Gummert in November von Sascha Hawemann am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Bewertung:
Das Theater traut sich mit November etwas. Regisseur Sascha Hawemann verzapft lustvoll ein sprödes, störrisches, komplex wucherndes Feuerwerk der Political Incorrectness. Das wohl beliebteste englische Schimpfwort „Fuck“ erlangt in Dauerschleife eine Bühnenrenaissance. Eine Mutter und ein Sohn giften sich mit lieblosem Desinteresse an. Menschliche Knochen werden zum Hundefutter degradiert. Diskriminierende Ausdrücke wie „Spasti“ fallen ebenso wie antisemitische Spinnereien, aggressive Flapsigkeiten im Bühnengeschehensverlauf. Allerlei Bitternis wird deftig ausgebreitet und grausam seziert. Da erinnert sich mancher an den sprachkorrekten Intendanten des Berliner Theatertreffens, Thomas Oberender, der in einem Stück das von der Figur eines Neonazis ausgesprochene N-Wort zensierte.
Das starke vierköpfige Ensemble lässt ordentlich „die Sau raus“, es wird gellend laut gewütet und dabei rebellisch mit Tabus gebrochen. Auf der Bühne wird eine desillusionierte Weltsicht des Punk (Englisch für „Dreck“ oder „Mist“) zelebriert. Punk kam erst nur als Stilrichtung der Rockmusik aus Großbritannien und war bald auch eine Protest- und Jugendbewegung. Die Jugend- und Subkultur fand früh in den 1970er Jahren auch in Deutschland viele Anhänger. Unangepasstes Verhalten, provozierendes Auftreten und Kritik an den bestehenden Verhältnissen sind charakteristisch für die Bewegung.
Der Titel November spielt unter anderem auf den Fall der Mauer am 9. November 1989 an. Autor Sascha Hawemann lässt sein Dramendebüt in Berlin zur Zeit der DDR und danach spielen. Es gibt dabei allerlei autofiktionale Andeutungen. Der deutsch-jugoslawische Regisseur und Autor wurde selbst 1967 in Berlin geboren. Er wuchs in Ost-Berlin auf und verließ 1986 illegal die DDR.
November behandelt die von der Staatssicherheit empfohlene „Härte gegen Punks“. Punks wurden bis zum Ende der SED-Diktatur staatlich verfolgt. Sie trafen sich oft im Untergrund, außerhalb sozialistisch orientierter und kontrollierter Kollektive. Musik wurde zum wichtigsten Ausdrucksmittel für inneren und äußeren Aufruhr.
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Auf der Werkstatt-Bühne zeugt eine Wand aus nebeneinander aufgestellten und verhangenen Glaselementen zwischen Bühne und Publikum für Abgetrenntheit. Sie erinnert an die Berliner Mauer. Diese Wand wird im Stückverlauf vielfach bemalt und später auch geöffnet (Bühne: Wolf Gutjahr). Versonnen in sich gekehrt lugt zu Beginn eine Darstellerin (Ursula Großenbacher) unter einem der weißen Tücher hinter der Glaswand hervor, bevor sie alle Tücher nacheinander herunterreißt. Später wird sie als Mutter, emotionslos verbittert, von ihrem Schmerz als eine in der DDR verbotene Lyrikerin und einem „Schwamm des Kapitalismus“ erzählen. Ihrem Sohn Phil (Sören Wunderlich) wirft sie vor, sie nicht zu lieben. Er kontert: „Ich hatte eine gute Lehrerin.“ Er möchte Regisseur werden, doch seine Mutter interessiert sich kaum für seine, von Krieg und Brutalität geprägten Filmideen.
Auch Phils Kumpel Fotzo (Holger Kraft) und Micha (Christoph Gummert) sind hart darauf. Wenn sie aufeinander treffen, flippen sie gerne headbangend aus. Fotzo schwingt im Unfrieden mit der Welt und rot beschmiertem Gesicht brachial widerständige Reden. Micha arbeitet sich lasziv abwechselnd an einer Wiedergabebox, einem Mikrofonständer und an einem Kopierer ab. Er bäumt – im Käferkostüm am Boden liegend – anzüglich seine Gliedmaßen auf oder tanzt aufreizend frenetisch zu Beats vom Band. Auch blanker Hintern werden wir im Stückverlauf ansichtig. Bald wechseln punkige Ausrufe der Darsteller mit eingespielten Songs wie Friday I’m in love (1992) von der Post-Punk-Band The Cure sowie der funkigen Soul-Nummer Celebration (1980) von Kool & The Gang.
Die Aufführung bleibt in weiten Teilen schwer zugänglich und kryptisch. Der neben Kraftausdrücken oft gewollt poetische Text ufert in vielerlei Gefilden. Bezüge etwa auf das Schicksal jugoslawischer Gastarbeiter hierzulande oder auf die aktuelle Gesundheitskrise werden angedeutet, politisch ist das Werk jedoch schwer einzuordnen. Verweisen die Anspielungen auf „Heiner“ und „Christa“ etwa auf die heute kanonisierten Autoren Heiner Müller und Christa Wolf, die auch in der DDR lebten? Auch die Zeitsprünge verwirren mitunter. "Punk is not dead“ prangt zu guter Letzt auf der Bühnenrückwand.
Wer Moritz Hellfritzschs Dokumentation Punk in Bonn (2012) gesehen hat, der weiß, dass auch die Bundesstadt zur Zeit der Bonner Republik eine Hochburg des Punk war. Kultige Eventlocations wie das Kult 41 an der Viktoriabrücke zeugen heute noch von einer lebendigen lokalen Punkszene. So hat sich Regisseur Sascha Hawemann für sein Autorendebüt über die Generation Punk wahrscheinlich fruchtbaren Boden ausgesucht. Ein Glücksgriff gelang ihm insbesondere mit den Darstellern, die das über zweistündige Drama trotz der erdrückenden Textlast wenigstens zeitweise zu einem eindrücklichen Erlebnis machen.
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November von Sascha Havemann am Theater Bonn | Foto © Thilo Beu
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Ansgar Skoda - 27. November 2021 ID 13329
NOVEMBER (Werkstatt, 26.11.2021)
Inszenierung: Sascha Hawemann
Bühne: Wolf Gutjahr
Kostüme: Ines Burisch
Licht: Ewa Górecki
Dramaturgie: Carmen Wolfram
Mit: Ursula Grossenbacher, Christoph Gummert, Holger Kraft und Sören Wunderlich
Premiere war am 26. November 2021.
Weitere Termine: 04., 14., 15., 16., 17., 22., 30.12.2021 // 08., 15.01.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de
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