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Ruhrtriennale 2024

Schönheit liegt

im Auge des

Betrachters



I Want Absolute Beauty in der Regie von Ivo Van Hove mit Sandra Hüller und dem Kollektiv (LA)HORDE in der Jahrhunderthalle Bochum | Foto © Jan Versweyveld

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Anfangs wird ein Samen gepflanzt, auf der Bühne sehen wir Bäume in unterschiedlichen Größen, von denen die höheren stets näher in den Vordergrund gerückt und während der Performance zunehmen mehr bespielt werden. Mehrere Ebenen und verschiedene Ästhetiken kommen zusammen: eingespielte Videoprojektionen, ausgefeiltes Lichtdesign, der Einsatz einer Live-Kamera. Plötzliche Licht- und Lautstärkenwechsel begleiten eine temporeiche Tanz- und Gesangsperformance.

Ivo Van Howe, neuer Intendant der RUHRTRIENNALE, thematisierte als Regisseur in der Vergangenheit Homophobie und die HIV/AIDS-Epidemie in der Gesellschaft der USA. Der Belgier inszenierte so 2019 A little Life nach dem Roman von Hanya Yanagihara für die Ruhrfestspiele, sowie an mehreren Theaterhäusern Angels in America nach Tony Kushner. Sein Referenzrahmen ist in der Regel Film, Musik und Popkultur. Er wagt mit einer Musiktheater-Performance ohne Dialoge experimentierfreudig etwas Neues. Das Licht- und Bühnendesign für I Want Absolute Beauty verantwortet dabei sein Ehemann Jan Versweyveld.

Die britische Indie-Ikone Polly Jean Harvey beeindruckte Ivo Van Hoves 2016er Inszenierung von Arthur Millers A view from the Bridge am Broadway. Eine Kontaktaufnahme führte zu der gemeinsamen Theaterarbeit an All About Eve 2019 im Londoner West End. Ivo Van Hove besorgte damals die Regie und die Produktion, PJ Harvey steuerte erstmals einen Soundtrack bei. Hier sang niemand weniger als die Golden Globe-Preisträgerin Gillian Anderson die Vocals von PJ Harveys „The Sandman“.

In der Jahrhunderthalle Bochum singt nun Sandra Hüller (2024 für Anatomie eines Falles für den Oscar und Golden Globe nominiert) gleich 26 Lieder aus dem Oeuvre der Singer-Songwriterin.

(Hüller bereicherte bereits die RUHRTRIENNALE ua. 2016 in Die Fremden oder 2015 in Accattone. In Bochum erprobte sie sich zuletzt in Der Würgeengel nach Luis Buñuel auch als Sängerin von Pop-Songs.)

Die heute wohl bekannteste deutsche Schauspielerin trägt die Blues- oder Folksongs PJ Harveys mit emotionaler Intensität und mal schillernd versonnenen, oft rauen oder sphärischen Gesang vor.

*

Es wird keine konventionelle Geschichte erzählt. Die Songs aus unterschiedlichen Alben der Künstlerin skizzieren in vier großen Teilen den Weg einer Frau ins Unbekannte. Unter der musikalischen Leitung von Liesa Van der Aa wurden PJ Harveys Songs neu arrangiert. Die vierköpfige, dezent im Hintergrund platzierte Band (Namen s.u.) bleibt nah am Original, der treibend repetitive Flow ist mitunter minimalistisch, dann wieder konzentriert erstarkend.

Hüller interagiert als Vortragende nicht mit der Band. Während ihres Gesangs zeigt sie sich vielmehr inspiriert durch dynamische-energiegeladene Körpersprache von zwei Tänzerinnen und sechs Tänzern des Ensembles (LA) HORDE aus Marseille (Namen s.u.). Sie tritt in den Dialog mit den Tänzern. Bilder von Intensität verkörpern Existentielles und die Lebenselemente, etwa wenn sich die Tänzer gegenseitig oder selbst Finger in den Mund stecken. Das transdisziplinäre Ballett integriert in ihre Performance Disziplinen wie Jumpstyle. Zu Songs wie „A Place Called Home“ oder „The Mountain“ bewegen sich viele Männerpaare zärtlich auf der Bühne. Synchron und mit nacktem Oberkörper drehen sich Tanzende am Boden oder wälzen sich auf der Erde, auf der die Bäume platziert sind. Die stimmgewaltige Hüller ist alsbald umringt von den Tanzenden, flirtet mit ihnen und übernimmt kurzzeitig Bewegungen des Ensembles. Sie lotet in gesanglichen Selbstbespiegelungen in der ersten Person emotionale Landschaften aus. Das Ensemble lässt das Wachsen, Liebe, Begehren und persönliche oder politische Enttäuschungen oder das Zuhause-Ankommen Revue passieren. Inhaltlich thematisieren die Lieder das persönliche Erleben und eigene Sehnsüchte. In den Lyrics, die im Englischen und Deutschen auf Beamern oberhalb der Bühne wiedergegeben werden, deuten sich – mit einer Vorliebe für das Paradoxe – auch Brutalität, Enttäuschung oder Einsamkeit an. Inhaltlich bewegt sich das Vorgetragene dabei analog zum Bühnengeschehen, bei der die Choreographie dann militärischen Drill, Ausgrenzung oder eine Attacke gegen ein schwules Soldatenpärchen darstellt („The Glorious Land“, „The Words That Maketh Murder“).

Die erzählte Reise ist oft dunkel, die oft schwermütig vorgetragenen emotionalen Erfahrungen manchmal unglücklich oder schlecht. So behandeln sie auch häusliche Gewalt („The Piano“), Kriegserfahrungen („One Line“), und es wird verstorbenen Verwandten („Down by the water“) gedacht. Tröstlich sind dann sehnsüchtige Songs oder Verse über sanfte Veränderungen. Im fragilen „White Chalk“ sinniert die Ich-Perspektive etwa über Kreidefelsen, die auf der Bühne großformatig projiziert werden. Der Abend handelt von Grenzen oder von sozialen Rollen; mehrere Versionen des Selbst und neue Lebensabschnitte werden bebildert.

Tänzer Evan Sagadencky, der bereits u.a. mit Billie Eilish für das Musikvideo zu „Never felt so alone“ zusammenarbeitete, übernimmt souverän den Duettpart von Thom Yorke in PJ Harveys expressiven „This Mess we’re in“. Ein weiteres bewegendes Duett ist das archaisch anmutende „To Talk to you“, bei dem Isabelle Huppert, eingeblendet auf einer Großbildleinwand, als weichgezeichnete Großmutter in Zwiesprache mit Hüller tritt, ein inszenatorischer Kniff von Van Hove und seinem Team.

Eine experimentelle Herangehensweise der Alternative-Ikone selbst war bereits Thema einer sehenswerten Doku, die PJ Harveys Recherchereise für ihr Album The Hope Six Demolition Project (2016) in den Kosovo, nach Afghanistan und in prekäre Viertel Washingtons zeigte. Harvey, gebürtig aus Britport/ Dorset, versteht sich auch als politische Musikerin. Das Musiktheater der Ruhrtriennale bebildert soziale und gesellschaftliche Fragen effektvoll. Ivo Van Howes Auswahl an aufwühlenden Songs bewegt, enthält jedoch keine Lieder aus dem jüngsten und zehnten Werk PJ Harveys, dem eskapistisch-synthielastigen I Inside the Old Year Dying (2023).

* *

Der Musiktheater-Titel I Want Absolute Beauty verweist schlussendlich darauf, dass Schönheit stets auch im Traurigen, in Verlusterfahrungen oder in der Trauer liegt. PJ Harveys mitunter chaotisch anmutende, eingängige, meist berührende Songs vermitteln – kraftvoll und emotional mitreißend vorgetragen von Sandra Hüller – eine tröstliche Hoffnung auf eine positive Zukunft.



I Want Absolute Beauty in der Regie von Ivo Van Hove mit Sandra Hüller und dem Kollektiv (LA)HORDE in der Jahrhunderthalle Bochum | Foto © Jan Versweyveld

Ansgar Skoda - 30. August 2024
ID 14891
I WANT ABSOLUTE BEAUTY (Jahrhunderthalle Bochum, 24.08.2024)
Konzipiert und inszeniert von: Ivo Van Hove
Choreografie: (LA)HORDE - Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel (in collaboration with the dancers and the choreography assistants)
Musik: PJ Harvey
Bühnenbild, Licht Design: Jan Versweyveld
Video Design: Christopher Ash
Kostümbild: An D'Huys
Sound Design: Tom Gibbons
Musikalische Leitung: Liesa Van der Aa
Dramaturgische Beratung: Koen Tachelet
Mit: Sandra Hüller (Schauspiel/ Gesang), Casper Tveteraas Hauge, Efua Maria Aikins, Emma Savoldelli-Harris, Evan Sagadencky, Jens van der Pijl, Louka Gailliez, Luca Völkel, Nahimana Vandenbussche, Sarah Abicht, Timothy Firmin und Tristan Sagon sowie einem besonderen Auftritt von Isabelle Huppert und der Stimme von PJ Harvey
Band: Liesa Van der Aa, Anke Verslype, Neil Claes und Alban Sarens
Premiere auf der RUHRTRIENNALE war am 16. August 2024
Weiterer Termin: 30.08.2024


Weitere Infos siehe auch: https://www.ruhrtriennale.de


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