Was bedeutet in einer
strukturschwachen Region
wie der Lausitz Gemeinschaft?
Die Neue Bühne Senftenberg startet mit einem FestSpiel zum Thema „Neue Heimat“ in die Spielzeit
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Bewertung:
Die GlückAufFeste und Spektakel zum Spielzeitauftakt an der NEUEN BÜHNE SENFTENBERG haben eine lange Tradition. Der neue Intendant FestSpiel genannten Theaterabend, an dem wieder mehrere Vorstellungen zur Aufführung kommen. Unter dem Titel „Neue Heimat“ geht es um unterschiedliche Geschichten von Menschen, die in die Region Lausitz gekommen sind und hier versuchen, eine neue Heimat zu finden. Zu Beginn kann das Publikum wie immer unter drei Inszenierungen wählen. Dafür geht es mit dem Bus in die Gartenstadt Marga im Senftenberger Stadtteil Brieske. Danach gibt es eine längere Pause mit kulinarischer Verpflegung und Live-Musik auf dem Theatervorplatz. Am Ende steht für alle im Theatersaal die Bühnenfassung des im ländlichen Brandenburg spielenden Romans Unter Menschen von Juli Zeh.
Zur Wahl stehen also drei Touren in die älteste deutsche Gartenstadt, die als Wohnsiedlung für die Arbeiter der Ilse Bergbau AG Anfang des 20. Jahrhunderts nach den Entwürfen des Dresdner Architekten Georg Heinsius von Mayenburg im späten Jugendstil in Brieske errichtet wurde. In der dortigen Kirche wird Gott ist 3 Frauen (Gi3F) von Miroslava Svolikova aufgeführt. Ein Stück über unseren Heimatplaneten und seine Zukunft. Im alten Zechenhaus spielt das Stück des aus Russland geflohenen Dramatikers Mikhail Durnenkov. In die alte Turnhalle des ehemaligen Oberstufenzentrums Brieske geht es zum Rechercheprojekt des kollektivs WEGWOHIN mit dem Titel Neue Heimat Senftenberg, das auf Senftenberger Lebensgeschichten basiert. Das Projekt begibt sich dabei auf eine Suche danach, was die Menschen der Region, die ihr ganzes Leben in der Stadt Senftenberg verbracht haben, aber auch hierher Geflüchtete mit dem Begriff Heimat verbinden.
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Bildquelle: Neue Bühne Senftenberg
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Sicher alles sehr sehenswert. Die Tour 2 in das Zechenhaus im Senftenberger Ortsteil Brieske ist aber schon allein wegen der Historie des Gebäudes zu empfehlen. Hier ist man dem, was die Lausitzer Braunkohle-Region über Jahrzehnte ausgemacht hat sehr nahe. Das 1909/10 als Klinkerbau errichtete Gebäude galt lange Jahre als „Kathedrale der Bergarbeiter“ der Grube Marga. Das als Umkleide und Waschkaue genutzte Zechenhaus steht seit 30 Jahren leer. Einige Versuche von Privatinvestoren den denkmalgeschützten Bau einer neuen Nutzung zuzuführen, schlugen bisher fehl. 2022 hat der Landkreis Oberspreewald/Lausitz das im Besitz der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-Verwaltungsgesellschaft (LMBV) befindliche Zechenhaus erworben und will es mit finanziellen Mitteln aus dem Strukturstärkungsgesetz denkmalgerecht sanieren. Es soll in Zukunft als Depot der kreiseigenen Museen aber auch als Kultur- und Veranstaltungsort dienen.
Als temporärer Spielort für die Aufführung von Mikhail Durnenkovs Stück УТОПИЯ - Utopia empfiehlt sich das Gebäude mit dem abgeranzten Charme bröckelnder Bausubstanz geradezu. Der aus Putins Russland verstoßene Durnenkov, dessen Stücke wegen seiner Verurteilung des Angriffskriegs gegen die Ukraine dort nun verboten sind, bringt eine eisige Parabel aus der alten mit in die neue Heimat. Am Ende rieselt sogar Kunstschnee aus einer Öffnung in der Decke des Vorraums zur Waschkaue, in dem sich das Publikum auf zwei kleinen Tribünen an den Stirnseiten gegenübersitzt. Gegen die sprichwörtliche Kälte werden Decken gereicht. Da denkt man in Bezug zu Russland und hiesiger Braunkohleförderung gleich noch an ganze andere Zusammenhänge.
Mitten im Raum führt eine gewaltige, unten geteilte Stahltreppe bis zur hohen Decke. In dieser eindrucksvollen Kulisse entwickelt sich nun ein Stück, das von einem vielversprechenden Neuanfang erzählt und doch in tödlicher Stagnation endet. Der zu Geld gekommene Kirill (Erik Brünner) gibt dem Säufer und ehemaligen Wirt Ljöscha (Daniel Borgwardt) Geld, dessen ehemalige Kneipe namens Utopia originalgetreu und mit unverändert schlechtem Bier aus Gurkengläsern wieder zu eröffnen. Nach einer wochenlangen qualvollen Entziehungskur, zu der in Kirill zwingt, nutzt Ljöscha die sich ihm unerwartet bietende Chance, um mit dieser Perspektive seiner Frau Nadja (Anna Schönberg) und dem drogenabhängigen Sohn Jura (Patrick Gees) eine neue Zukunft zu bieten.
Was sich wie ein typisch russisches Klischee anhört, bekommt in der Regie von Catharina Fillers aber einen durchaus spannenden Drive. Witzig auch die Idee mangels Requisite das Sitzen am Kneipentisch nur durch das Halten einer Tischdecke darzustellen. Kirill lässt bei Feiern mit Honoratioren der Stadt alten Zeiten wieder aufleben und treibt sein undurchsichtiges Spiel mit den neuen Kneipenbetreibern, die eigentlich ganz andere Träume von der Zukunft des Utopia haben. Die Pläne werden aber von Kirill immer wieder im Keim erstickt. Weder der spleenige Jura mit Hang zum Designer, der in immer neuen Outfits wie auf einem Catwalk durch den Raum läuft, noch die recht pragmatische Nadja können sich mit ihren Ideen gegen den „Boss“ und Geldgeber durchsetzen. Ljöscha beginnt wieder zu trinken und Nadja wendet sich der Religion zu. Schließlich geht das Utopia samt Ljöscha in heiligen Flammen auf und die Jugend erstarrt in der Kälte des russischen Winters. Die kleine Gemeinschaft ist gescheitert. Unschwer lässt sich da das postsowjetische Russland erkennen.
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Utopia von Mikhail Durnenkov am Neuen Theater Senftenberg | Foto (C) Steffen Rasche
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Der in der Corona-Zeit entstandene Roman Über Menschen von erzählt von der Großstädterin Dora, die vor den dauernden Lockdowns und ihrem, die Corona-Regeln penibel auslegenden Freund aufs Land flieht und im Dorf Bracken ein runtergekommenes Haus kauft. Der seltsame Nachbar Gote stellt sich ihr als „Dorf-Nazi“ vor und auch die anderen Bewohner des abgelegenen brandenburgischen Kaffs reißen gern politisch unkorrekte Witze oder wählen die AfD.
Die linksliberale Erbin aus dem Westen muss sich zwangsweise mit Rassisten und Politskeptikern aus dem Osten auseinandersetzen, revidiert aber durch ihre Anteilnahme am Leben und den Geschichten der Menschen vom Land nach und nach ihre Vorurteile. Gewissheiten geraten ins Wanken.
Auch das schreit förmlich nach Klischee und ist nicht ganz unumstritten, aber vor allem auch eine Erzählung über Gemeinschaft. Schon beim Einlass in den Saal hört das Publikum aus dem Off eingespielte Statements zu Frage, was Senftenberger Bürgern Gemeinschaft bedeutet. Es ging Juli Zeh in ihrem Roman sicher nicht darum, rechte Gesinnung im Osten zu rechtfertigen. Als Einblick in die Lebensverhältnisse und Ansichten von Menschen in ländlichen Gegenden Ostdeutschlands dient der Roman allemal. Hausregisseurin kehrt vor allem den Humor der Geschichte heraus, was die 90minütige Inszenierung recht unterhaltsam macht. Die Erzählpassagen verteilt die Regisseurin auf alle DarstellerInnen. Auch
Die Bühne von Norbert Bellen ist bis auf ein dunkles Wandgestell leer. Die Wand dient den DarstellerInnen als Tafel, was sich auch in das Bühnenportal fortsetzt. Es entstehen so während des Spiels etliche Kreidezeichnungen z.B. von der Einrichtung in Doras Haus. Der wortkarge Dorf-Nazi Gote (Matthias Manz), schaut auf einer Leiter über die Wand, oder schleppt ungefragt Sachen heran. Szenisch setzt die Inszenierung oft auf Slapstick. So spielt Clara Luna Deina neben den anderen weiblichen Rollen auch Doras Hündin Jochen und Dorfnachbar Heini (Roland Kurzweg) rodet sehr lautstark Doras Vorgarten. Sehr witzig ist auch ein für Dora sehr aufschlussreiche Autofahrt in Sachen „Die da oben behandeln uns doch wie Idioten.“-Politikverdrossenheit mit dem AfD-wählenden Paar Tom und Steffen (Tom Bartels und Robert Eder), die ausländische Studenten, von Heini „Pflanzkanacken“ genannt, für die Herstellung von Blumengebinden beschäftigen.
Dora fällt hier von einer „Rassismus-Starre“ in die nächste. Die knappgehaltene Inszenierung verkürzt den Roman aber schnell auf den Hauptsatz „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht so leicht über die Menschen erheben.“ Obwohl natürlich nicht Gotes Vergangenheit als vorbestrafter Nazischläger und seine Glorifizierung der ausländerfeindlichen Pogromnächte 1992 in Rostock-Lichtenhagen verschwiegen wird. Der Roman enthält, wenn man es so lesen will, auch die These „Lass doch die Welt, wie sie ist.“ Dass Dora in dieser „Existenzgemeinschaft“ schließlich menschlich handelt und von ihrem tänzelnden Ego-Vater Jojo (Roland Kurzweg), der den todkranken Gote nur als Fall interessant findet, sogenannte Palliativ-Hilfe leistet, könnte auch als ambivalente Parabel auf den Umgang mit den Menschen im Osten verstanden werden. Ein schönes Stück zum Tag der Einheit.
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Über Menschen von Juli Zeh an der Neuen Bühne Senftenberg | Foto (C) Stefan Bock
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Stefan Bock - 3. Oktober 2022 ID 13835
УТОПИЯ - UTOPIA (Zechenhaus Brieske, 30.09.2022)
Mikhail Durnenkov
Regie: Catharina Fillers
Bühnen- & Kostümbild: Maria Wolgast
Musik: Matthias Bernhold
Dramaturgie: Johann Pfeiffer
Besetzung:
Nadja ... Anna Schönberg
Kirill ... Erik Brünner
Ljöscha ... Daniel Borgwardt
Jura ... Patrick Gees
DSE an der Neuen Bühne Senftenberg: 30. September 2022
ÜBER MENSCHEN (Hauptbühne, 30.09.2022)
von Juli Zeh
Regie: Elina Finkel
Bühnen- & Kostümbild: Norbert Bellen
Dramaturgie: Karoline Felsmann
Besetzung:
Erzählende, Dora … Marianne Helene Jordan
Erzählender, Gote … Matthias Manz
Erzählende, Sadie, Franzi … Clara Luna Deina
Erzählender, Steffen … Robert Eder
Erzählender, Tom … Tom Bartels
Erzählender, Jojo, Heini … Roland Kurzweg
Premiere an der Neuen Bühne Senftenberg: 30. September 2022
Weitere Termine: 06.-09., 12.-15.10.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-senftenberg.de/
Post an Stefan Bock
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