„Unbekannt,
unbekannt,
unbekannt“
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Sophie Basse, Paul Michael Stieler und Lydia Stäubli in 216 Millionen am Theater Bonn | Foto © Matthias Jung
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Bewertung:
Das Ensemble gönnt dem Publikum im Bad Godesberger Schauspielhaus keine Verschnaufpause. Vier grau gekleidete Menschen mit Fluchterfahrungen eröffnen laut den Abend. Teils von zwei oder mehr Personen synchron ausgerufene Erlebnisberichte von Verfolgung und Gewalt, Hitze, Dürre, Stürmen und Überschwemmungen sind keine leichte Kost. Wer bei den Kriegs-Schauplätzen und Katastrophen in den Fernsehnachrichten nicht mehr genau hinschauen möchte, könnte auch hier überfordert werden. Doch an diesem Abend lernen wir, auch Klimaflüchtlinge müssen hinsehen und haben oftmals keine Wahl.
In einer geballten Dichte wird von bitteren Lebenshintergründen und bewundernswerten Mut erzählt. Da berichtet eine Mutter (Nadia Feyzi) von ihrer Zwangsverheiratung im Kindesalter. Ihre nur elf Jahre jüngere Tochter (Kayci Feyzi) steht neben ihr und ruft aus, dass der Vater sie schon als Kind misshandelte und sie durch körperliche Verletzung auf einem Ohr taub wurde. Nach der entbehrungsreichen und traumatischen Flucht wurden beide in Deutschland getrennt, da sie ohne Papiere von den Behörden nicht als Mutter und Tochter anerkannt wurden. Es dauerte den Ausführenden zufolge zwei Jahre, bis über die Behörden ein sicherer Mutterschaftstest als Nachweis durchgeführt und genehmigt wurde.
Der Stücktitel 216 Millionen spielt darauf an, dass es laut einem Report der Weltbank bis zum Jahr 2050 216 Millionen Flüchtlinge vor Folgen des Klimawandels geben dürfte, aufgrund steigernder Hitze, Naturkatastrophen, Ernteausfällen oder Trinkwasserknappheit.
Schon jetzt wird in einigen Ländern das Wasser knapp. Nadia Feyzi aus Afghanistan erklärt, dass fast 80 Prozent der Afghanen zu wenig Wasser besitzen. Es gibt so Wasserdiebstähle und Kämpfe. Sie erzählt von anderen Frauen und Kindern, die auf der Flucht nach Europa im Meer ertranken.
Die Erde wird instabil und es droht vermehrt größere Brandgefahr, ruft Sadou Sow aus Guinea aus. Pizzar Stanley Pierre aus Haiti erzählt, dass die Kakao-Plantage seiner Familie, die über 100 Jahre bestand, in den letzten zehn Jahren durch Hurrikane kaputt ging. Ein Erdrutsch zerstörte sein Zuhause. Zuden wurde er wegen seiner Homosexualität in Haiti angefeindet, attackiert und konnte nicht zur Polizei gehen, da diese Diskriminierung von Homosexuellen nicht ahndet. Er erklärt, es gebe in seiner Heimat keinen Begriff für sexuelle Minderheiten, weswegen Behörden Flüchtlinge, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung flüchten, in ihre Heimat wieder abschieben könnten.
Die Textverständlichkeit ist nicht immer gut, auch aufgrund des synchronen oder chorischen Sprechens. Französische oder anderssprachige Einsprengsel bereichern das Gesagte.
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Zu Shakiras Waka Waka (this time for Africa) wechselt die Szenerie. Ein zaunartiges, mehrere Meter hohes Metallgerüst wird nach vorne geschoben, auf das kreisrund die Sterne der Europäischen Union platziert sind. In Anzügen mit unterschiedlichen Farbgebungen treten sechs Schauspieler auf. Sie begegnen sich während diverser Kletterpartien inmitten des Gerüstes.
Dargestellt wird eine Klimakonferenz in der UN-Stadt Bonn, ausgerichtet von einem Ölmagnaten namens Nat (Daniel Stock). Die Akteure mimen Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Menschenrechtsorganisationen und der Kunst. Da ist die EU-Politikerin Ursula (ausdrucksstark: Lydia Stäubli), die europäische Ideale als „wichtig, ganz wunderbar“ beteuert. Ihr wird aber von einer Menschenrechtlerin (Sophie Basse) Scheinheiligkeit mit Blick auf die aktuelle EU-Grenzpolitik vorgeworfen. Beschuldigungen werden laut. Ein Wissenschaftler (Paul Michael Stiehler) ist davon überzeugt, dass er eine bahnbrechende Erfindung mit Bezug zum Klimawandel voller „Perfektion“ gemacht hat. Seine Entwicklung namens „Super Screen“ kann Temperaturen auf der Erde regeln. Lisa (Imke Siebert), eine Klimaaktivistin, warnt den Wissenschaftler davor, dass seine Innovation als Waffe von Mächtigen missbraucht werden könnte. Der Wissenschaftler möchte „privat konsequent sein“ und gibt seine Erfindung frei. Serge (Alois Reinhardt), ein Künstler, provoziert mit einer bitteren Performance, in der sämtliche Flüchtlingsfragen ad absurdum geführt werden, da er droht, eine Flüchtlingsleiche vor Publikum zu verspeisen.
Eine Beliebigkeit diverser amouröser Verwicklungen wird ausgestellt, die einhergeht mit beliebigen Positionen und politischen Grundhaltungen. Es werden platt und plakativ Namen wie „Nancy Wagenknecht“ oder „Björn Habeck“ ausgerufen. Da fragt man sich, wer mit wem und warum? Im konfusen Durcheinander heißt es „Tötet Elon Musk! Tötet Putin!“ Bald wird gegen die EU-Außenpolitik, die politische Mitte und etablierte Parteien gewettert. Albern wird es schließlich, als Wehen einer Frau von der Leyen mit einem neunten Kind angedeutet werden.
Später kommen wieder die Flüchtlinge zu Wort. Beschwerden über ein knausriges oder langwieriges deutsches System erscheinen angesichts der Umstände in den Herkunftsländern ein bisschen überzogen. Zudem leiden unter einigen der beklagten Missstände auch in Deutschland geborene Bürger. Es gibt viele Minderheiten, wie Menschen mit Behinderung oder andere sozial Benachteiligte, die in unserer Gesellschaft auch seitens der Politik gefördert werden müssen. Monologe wiederholen sich, so werden Kernaussagen eingängiger; etwa dass 40 Prozent aller Kinder hierzulande einen Migrationshintergrund haben und man die ärmeren sozialen Schichten unterstützen könne, indem das Geld von den Wohlhabenden genommen würde.
Der islamistische Attentäter von Solingen wird kurz erwähnt, indem seine Tat lediglich dahingehend beklagt wird, dass sie zu weiteren Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen führe. Gleichzeitig thematisiert die Vorführung leider den islamischen Hintergrund vieler Flüchtlinge und Zugewanderter nicht, der oft patriarchal und konservativ geprägt ist. Lösch und Kittstein machen es sich einfach, den Theologen Dietrich Bonhoeffer zu zitieren: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag“, und gleichzeitig darauf zu verweisen, dass die Schicksale auf der Flucht Gestorbener in vielen Fällen „unbekannt, unbekannt, unbekannt“ blieben.
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216 Millionen am Theater Bonn | Foto © Matthias Jung
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Nach etwa zweieinhalb Stunden wird ein effektvolles, jedoch zu plakatives Bild dargeboten:
Symbolisierte Leichen werden vom Ensemble erst angehäuft, um darauf zu lauter Ballermann-Musik zu tanzen; eine Reminiszenz auf medial thematisierte rassistische Parolen während einer Party auf Sylt. Gleich darauf wird chorisch ein Monolog am Bühnenrand gesprochen. Vom Ensemble wird das Publikum daran erinnert, nicht im Kriegsgebiet, Krisengebiet oder in bitterer Armut geboren worden zu sein. Lösch respektive Kittstein heben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 hervor, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren seien. Dann werden die symbolisierten Leichen auseinander geschoben und nebeneinander gelegt, wie in einer Grabstätte. Ein schönes, menschenwürdiges Bild am Ende. Viele Fragen bleiben offen. Wen etwa wählen im Sinne einer Willkommenskultur 2025? Es gibt am Ende keine einfachen Lösungen.
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Ansgar Skoda - 20. September 2024 ID 14924
216 MILLIONEN (Schauspielhaus Bad Godesberg, 15.09.2024)
von Lothar Kittstein
Regie: Volker Lösch
Bühne: Valentin Baumeister
Kostüme: Teresa Grosser
Licht: Max Karbe
Dramaturgie: Jan Pfannenstiel
Mit: Sophie Basse, Kayci Feyzi, Nadia Feyzi, Pizzar Stanley Pierre, Alois Reinhardt, Imke Siebert, Sadou Sow, Lydia Stäubli, Paul Michael Stiehler und Daniel Stock
Premiere am Theater Bonn: 13. September 2024
Weitere Termine: 28.09./ 04., 12., 19., 26., 31.10./ 19.12.2024// 08.01.2025
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de
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