AUTOR:INNENTHEATERTAGE 2025
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Fremde Seelen
von Eva-Maria Bertschy
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Bewertung:
Die Schweizer Schauspielerin Carol Schuler war von 2016-19 in den Komödien von Herbert Fritsch an Volks- und Schaubühne Berlin zu sehen. Einem größeren Publikum dürfte sie seit 2020 als unkonventionelle Zürcher TATORT-Ermittlerin Tessa Ott bekannt sein. Nun gastiert sie bei den Autor:innentheatertagen in dem dokumentarischen Musiktheater Fremde Seelen der Schweizer Theaterautorin, Dramaturgin und Regisseurin Eva-Maria Bertschy. Die Bühne und Kostüme hat Ersan Mondtag gestaltet. Die Musikalische Leitung, Komposition und Livemusik kommt vom kongolesischen Musiker Kojack Kossakamvwe. Eine wahrlich internationale Produktion in Französisch, Deutsch und Schweizerdeutsch, die vom Schweizer Festival Belluard Bollwerk International in Fribourg über das Theater Neumark Zürich, das Vorarlberger Landestheater bis zur euro-scene Leipzig tourte und in jeder Stadt einen einheimischen Chor dazu lud. Für das Gastspiel am Deutschen Theater ist nun nochmal der aus Leipzig angereist.
Bertschy ist in einem kleinen Schweizer Voralpendorf aufgewachsen und hörte dort 2008 vom Selbstmord eines vietnamesischen Priesters, der im Nachbardorf, in dem ihre Mutter aufgewachsen ist, als Pfarrer angestellt war. Nun hat sie dessen Geschichte recherchiert und als Theaterstück über Flucht, Migration und Heimat auf die Bühne gebracht. 10 Jahre lang hat Bertschy mit dem Schweizer Theatermacher Milo Rau u.a. im Kongo zusammengearbeitet. Ihr Stück behauptet zwar wie Raus Produktionen dokumentarisch zu sein, sie hat aber die Namen und Orte der realen Personen geändert. Wie es auch im Stück heißt, ist sie nicht am Skandal, sondern mehr am Alltäglichen der Geschichte interessiert. Hat der Pfarrer nun Selbstmord begangen, was im Katholizismus eine große Sünde darstellt, oder war es nur ein Unglück durch vergiftete Pilze? Hatte der in den 1980er Jahren aus Vietnam geflohene Priester Heimweh? War er krank, litt er an Depressionen? Wie kam er mit den Einheimischen klar? All das sind Fragen, mit denen sich die Erzählperson, gespielt von Carol Schuler, bei ihrer Recherche im heimatlichen Dorf in Gesprächen mit der Mutter, einer vietnamesischen Schwester und dem Vorsitzenden des Pfarreirats versucht der Person Franz Hoang zu nähern.
Schuler steht dabei schlicht in Rock und Bluse gekleidet barfuß in einem runden Wasserbecken, das an der Rückseite wie ein großes Medaillon eine runde Landschaftsvignette mit Kirche und Bergen zeigt. Sie trägt Pappsteine ins Becken und erzählt von der Ankunft im Dorf und der Suche nach dem Friedhof. Franz Hoang wünschte sich einen einfachen Stein für sein Grab, was ihm der Pfarreirat nicht gewährte. Nach dem Motto: „Wie hätte das denn ausgesehen…“. Die Engstirnigkeit der Mutter bringt sie ebenso schön zum Ausdruck wie die Volkstümelei der Pfarreirats Alois, der den Pfarrer immer zum Pilze suchen mit in den Wald nahm. Sonst hatte Franz Hoang außer zu den Predigten kaum Kontakt zu den Einheimischen, er kam auch nicht mit den Kindern beim Religionsunterricht klar und fühlte sich einsam im Pfarrhaus. Schuler wechselt in ihrer Erzählung von Französisch zu Deutsch und Schweizerdeutsch. Die Geschichte setzt sich langsam wie ein Puzzle zusammen, immer wieder unterbrochen durch Musikeinlagen und kurze Gespräche zwischen Carol Schuler und dem Musiker Kojack Kossakamvwe, der sehr kunstvoll auf einer Doppelhals-Gitarre spielt.
Bertschy hat auch immer wieder kurze Fremdtexte u.a. von Paul Celan oder Hannah Arendt über Verlorenheit und Selbstmörder oder Schweizer Liedgut zum Thema Heimat eingefügt. Die Angst die Heimat zu verlieren, zieht sich von der Flucht der vietnamesischen Bootpeople mit der Cap Anamur ab 1979 bis in die Schweizer Berge, wo Alfons Aeby dichtete: „Herrgott, Herrgott, mache um unser Ländli in der Not ein Wändli, dass uns niemand die Heimat stiehlt.“ Als vietnamesische Schwester erzählt Carol Schuler so eine Flucht aus Vietnam in die Schweiz, sofort am Flughafen konfrontiert mit der Bürokratie eines Grenzbeamten, gespielt von Kojack Kossakamvwe, der sich sonst immer auf der anderen Seite des Schalters sieht. Dazu wird Gemüse geschnippelt und asiatisches Essen bereitet.
Schuler schafft es mit ihrer komödiantischen Ader, diesen schweren Stoff leicht rüberzubringen. Später öffnet Kossakamvwe das Landschaftsmedaillon, woraus ein dreiteiliger Spiegel wie ein Altar entsteht und mit Licht und Wasser Spiegelungen erzeugt. Gemeinsam mit dem Chor entsteht so etwas wie ein Alpengospel. Schuler bläst sogar auf einem Alphorn. Der Text geht vom Allgemeinen ins Private auch der Autorin, die mit dem kongolesischen Musiker leiert ist, befragt Glaubenverlust und Wunsch nach Transzendenz, den Alltagsrassismus und Wandel in der Schweiz wie den im einst von Europäern kolonisierten Vietnam. Das ist recht viel für 100 Minuten aber keine Sekunde langweilig.
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Fremde Seelen von Eva-Maria Bertschy | Foto (C) Tom Dachs
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Stefan Bock - 15. Juni 2025 ID 15304
FREMDE SEELEN (DT-Kammerspiele, 14.06.2025)
von Eva-Maria Bertschy
Konzept, Text und Regie: Eva-Maria Bertschy
Bühne und Kostüme: Ersan Mondtag
Musikalische Leitung und Komposition: Kojack Kossakamvwe
Outside Eye und Dramaturgische Unterstützung: Julia Reichert
Sounddesign: Fabien Lauton
Mit: Carol Schuler, Kojack Kossakamvwe und den CoroVivo Flying Singers
ATT-Gastspiel des Theaters Neumarkt und Vorarlberger Landestheater
Weitere Infos siehe auch: https://www.theaterneumarkt.ch/
https://landestheater.org/
Post an Stefan Bock
AUTOR:INNENTHEATERTAGE
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