Kopflastig
BENJAMIN von Peter Ruzicka (Text: Yona Kim) an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt
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Dietrich Henschel als Walter Benjamin an der Hamburgischen Staatsoper | Foto (C) Bernd Uhlig
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Bewertung:
Die Hamburgische Staatsoper ließ es zum Ende ihrer insgesamt mehr als erfolgreichen Saison [während der Zeit sahen und hörten wir z.B. Achim Freyer´s Parsifal-Premiere oder staunten gar nicht schlecht über Nagano´s "Neusicht" der Walküre] nochmal richtig krachen:
BENJAMIN war angezeigt und führte Sonntagabend zur Welturaufführung des gleichnamigen Musiktheaters von Peter Ruzicka (nach der Textvorlage Yona Kim´s); es handelte sich um die mittlerweile dritte Oper des in Düsseldorf gebor'nen Komponisten, Dirigenten, Intendanten, und nach der 2008er HÖLDERLIN-Premiere an der Staatsoper Unter den Linden - das ganz nebenbei bemerkt - gab es, und nicht nur werkbezüglich, Irritiererisches zu vermerken, woran ich mich jetzt abrupt so stark erinnerte.
Die Reaktionen auf das anderthalbstündige Stück über den jüdisch-deutschen Philosophen und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892-1940) hatten, vom rein Klimatischen her, einen mehr verhaltenen Charakter, und für hanseatische Verhältnisse vielleicht sogar um einen Hauch weit über unterkühlt; so richtige Begeisterung klingt allerdings ein bisschen anders... [An den fast schon legendären Uraufführungshit von Lachenmann´s Das Mädchen mit den Schwefelhölzern aus dem Jahre 1997 knüpft der aktuelle Streich gewiss nicht an.]
Und worum ging und geht es?
"Walter Benjamin war deutscher Philosoph und Kulturwissenschaftler. Sein Lebensweg als Jude und Marxist durch das 20. Jahrhundert war unstet und irrend. Die Figuren, die in dieser Oper Benjamins letzten Lebensweg mitgehen, stecken seinen Wirkungsbereich ab. [...] Auf der Flucht in die USA nahm sich Benjamin 1940 in der spanischen Grenzstadt Port-Bou das Leben."
(Quelle: staatsoper-hamburg.de)
Ich fragte mich die ganze Zeit, während ich dem kalt-kopflastigen und bar jedweder "Gefühle" Nacheinanderabgespultsein der von Librettistin Kum (die auch Regie führte) gedachten und von Ruzicka (der selber dirigierte) komponierten sieben Teil-Stationen lesend lauschte, wer von den zwei Schöpfern bloß als erstes auf die glorreiche Idee verfallen war, die allerletzten Stunden der von ihnen materialisierten Geistesgröße mit derem Gesamtleben und -werk in eine einaktige und mit einer Dauer von 90 Minuten Quasi-Kurzoper zusammenpressen zu wollen? Was für ein törichter Doppel-Ehrgeiz!
Gleichwohl ließ uns Yona Kum zu ihrer künstlerischen Legitimation das Folgende hier wissen:
BENJAMIN sei "ein labyrinthisches Spiel des Erinnerns und Vergegenwärtigens an der Schwelle des (Über-)Lebens, das keiner Logik der Chronologie oder der Ortseinheit gehorcht, sondern sich einzig und allein auf den Sog, ja, den Blutstrom des Vergegenwärtigten einlässt. Geschichtliche Begebenheiten, Lebensereignisse, Thesen und Menschen, reale wie fiktive, werden Walter Benjamin umkreisen, ebenso erratisch-irrlichternd wie zwingend-folgerichtig, und sie werden sich immer erneut miteinander verschränken. Denn es geht keineswegs darum, die Biographie von Walter Benjamin nachzuerzählen, es ist vielmehr der Versuch eines Musiktheaters, das in seiner Dramaturgie die magische Gangart seines radikal grenzgängerischen Denkens aufnehmen will, das kein abgeschlossenes Denkgebäude, kein Zuhause suchte, sondern das rastlose Reisen selbst war."
(Quelle: peter-ruzicka.de]
Peter Ruzicka meinte zu seinem Werk:
"Die Musik in BENJAMIN ist bewusst nicht konsistent gehalten. Eher disparat, so als würde sie im Moment des Erklingens ihr Weitersprechen erst begründen. Aber solche Dialektik ist auch dem Denken Walter Benjamins zu eigen, der ja gerade im Fragmentarischen zur Erkenntnis, zur Wahrheit vorzudringen wusste. Die musikalische Gestik erscheint durchweg als eine 'Reise ins Innere'. Und dies wurde zur Leitidee meiner Oper."
(Quelle: Programmheft der Hamburgischen Staatsoper, S. 6)
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Heike Scheele baute eine imposante und v.a. funktionale Einheitsbühnenraum-Ruine, die womöglich einerseits als Übergangs- und Flüchtlingslager, andrerseits als Traum- und Alptraumgegend à la Kein Ort. Nirgends identifizierbar hätte sein können.
Die Kostümierungen Falk Bauer´s griffen Moden und Gepflogenheiten aus diversen Zeitrechnungen auf.
Als in den Teil-Stationen auftretende Mitgefährten und Bezugspersonen Walter Benjamins bestachen (in der Reihenfolge des Besetzungszettels): Lini Gong als hochexzentrisch einem bolschewistischen Theater frönende lettische Schauspielerin und Geliebte Asja Lācis, Dorottya Láng als wie im Trotta-Film mit der sie spielenden Barbara Sukowa aussehende Freundin und mahnende Beschwörerin Hannah Arendt, Andreas Conrad als agitatorisch-dumpf agierender und meinungseinflüsternder Bertolt Brecht,Tigran Martirossian als jüdisch-rechtgläubiger Religionshistoriker Gershom Sholem und Marta Świderska als fürsorgliche und besorgte Ehefrau und Mutter Dora.
Dietrich Henschel sowie Günter Schaupp gestalteten die Hauptrolle, wobei der eine sang, der andre sprach.
Der Chor der Hamburgischen Staatsoper (Choreinstudierung: Eberhard Friedrich) verblüffte allgemein vom Anfang bis zum Schluss!! Am wohl beeindruckendsten seine große Vokalisen-Szene in der fünften der Stationen, die mit ihrem mehrmaligen Ausruf des Erlösungsworts "Jerusalem" gipfelnd zum absoluten Highlight dieses Werks an sich gereichte; Ruzicka hatte hier lediglich einen Entwurf aus seiner ersten Oper CELAN musikalisch überschrieben.
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg trat in Großbesetzung an; ein Teil des Schlagzeug-Apparates war im Hause unsichtbar, will sagen außerhalb des Grabens, aufgestellt.
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Das Opus zeichnet sich schlussendlich aus durch ein enormes Überfrachtungspotenzial, und zwar von Allem mit Allem. (M)ein an sich total erwärmbares "Gefühl" für etwas ganz Bestimmtes blieb da völlig auf der Strecke, ward deaktiviert.
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Benjamin von Peter Ruzicka an der Hamburgischen Staatsoper | Foto (C) Bernd Uhlig
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Andre Sokolowski - 4. Juni 2018 ID 10736
BENJAMIN (Hamburgische Staatsoper, 03.06.2018)
Musikalische Leitung: Peter Ruzicka
Libretto und Inszenierung: Yona Kim
Bühne: Heike Scheele
Kostüme: Falk Bauer
Licht: Reinhard Traub
Dramaturgie: Angela Beuerle
Chöre: Eberhard Friedrich
Sub-Dirigent: Seitaro Ishikawa
Besetzung:
Walter B. ... Dietrich Henschel
Asja L. ... Lini Gong
Hannah A. ... Dorottya Láng
Dora K. ... Marta Świderska
Gershom S.. ... Tigran Martirossian
Bertolt B. ... Andreas Conrad
Darsteller ... Günter Schaupp
Hamburger Alsterspatzen
Chor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Uraufführung war am 3. Juni 2018.
Weitere Termine: 06., 10., 13., 16.06. / 14., 19.10.2018
Weitere Infos siehe auch: http://www.staatsoper-hamburg.de
Post an Andre Sokolowski
http://www.andre-sokolowski.de
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HÖLDERLIN (Staatsoper Unter den Linden, 2008)
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