Wer hat recht?
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Antigone-Tribunal an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund
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Bewertung:
JOiN ist ein Akronym und steht für „Junge Oper im Nord“. Das Nord wiederum ist jene Stuttgarter Außenspielstätte, in der das Schauspiel des Staatstheaters nach der Räumung des „Depots“ im Osten der Stadt bisher in der Umgebung von Probenräumen kleinere Produktionen gezeigt hat und wo ab dieser Spielzeit die Junge Oper ihre Heimat hat. Als zweite Premiere war ein Antigone-Tribunal „nach dem Stück Die drei Leben der Antigone von Slavoj Žižek“ angekündigt. Das verblüfft zunächst einmal. Slavoj Žižek für Kinder? Ein Philosoph, der vielen Erwachsenen, wenn nicht wirr, so doch verwirrend erscheint? Die Homepage empfiehlt die Aufführung zwar „ab Klasse 9“, aber an anderer Stelle wird die Produktion doch etwas verschämt für Erwachsene annonciert. Man geht also nicht ganz fehl, wenn man „Junge Oper“ eher auf die Akteure als auf das Publikum bezieht.
Die eingebürgerte und von Generationen „humanistischer“ Deutschlehrer propagierte Lesart des Antigone-Stoffes verdammt Kreon als Scheusal und erhebt die Titelheldin zum Inbegriff der mitfühlenden Menschlichkeit. In Wahrheit wird er so zu einem Plädoyer für den Nepotismus, denn Antigone fordert Gerechtigkeit nur für den Bruder, keineswegs für die Menschheit, also grundsätzlich. Millionen von Vereinsmitgliedern und Schiedsrichtern folgen dieser pharisäerhaften Doppelmoral, die die Missachtung von ansonsten verbindlichen Gesetzen rechtfertigt, wenn es um die "eigenen Leut‘“ geht. Der zentrale Satz Antigones heißt bei Žižek: „Meine Natur ist Liebe, hassen kann ich nicht.“ Das Stück aber zeigt nicht diese Liebe als verallgemeinerbares Prinzip, sondern Protektionismus. Der Chor mahnt Antigone mit gutem Grund: „Du lebst noch und strickst schon am eigenen Mythos.“ Die wiederholte Behauptung allerdings, dass nichts so unheimlich dämonisch sei wie der Mensch, ist als philosophische Erkenntnis etwas mager.
Žižek bietet den Zuschauern als Anhang zur gestrafften Fabel, die seit Sophokles, unter anderem von Hasenclever, Cocteau, Anouilh, Brecht, vielfach variiert wurde, fast wie in einem Brechtschen Lehrstück drei Möglichkeiten zur Wahl an, die Position Antigones, die Position Kreons und die Position des Chors, der als Sprecher der „einfachen Menschen“ sowohl Antigone, wie auch Kreon verurteilt. „Das leidende Volk von Theben“ – man mag an Boris Godunow denken – erkennt bei dem Marxisten Žižek, dass das scheinbare Festhalten an Gerechtigkeit eine Machtfrage ist. Es erklärt sich zu einem „Volksgericht“, dessen Ambiguität an totalitäre Systeme erinnert.
Unter den, übrigens hervorragenden, Gesangssolisten treten, begleitet von sieben Musikern, neben David Kang als Kreon und Carina Schmieger als Antigone, Deborah Saffery oder Ida Ränzlöv in der Doppelrolle von Antigones Bräutigam Haimon und dem Wahrsager Tiresias auf. Der Sprech- und Bewegungschor besteht aus Bürgerinnen und Bürgern, die Spaß am Mitmachen haben, und darin besteht wiederum die Schwäche des Inszenierung von Blanka Rádóczy. Drei Frauen ahmen die Gesten Antigones nach. Stellen sie zusammen mit dem Rest des Chors den Dilettantismus des „Volkes“ aus, oder sind sie, verkrampft auf den Dirigenten am Bildschirm hinter dem Publikum starrend, nicht, wie zu befürchten, tatsächlich dilettantisch? Die angespannte Unbeholfenheit in der Ausführung der schlichten Choreographien jedenfalls kommt an die Professionalität der Solisten und der Instrumentalisten nicht heran.
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Für die Musik des Schweizer Komponisten Leo Dick, deren Stil man als gemäßigt atonalen Expressionismus kennzeichnen könnte, werden die Klangfarben der Instrumente, erweitert um elektronische Effekte, weidlich genutzt. Die Machart des antiken Dramas kommt einer Opernfassung entgegen. Beim Klagegesang der Antigone um ihren getöteten Bruder Polyneikes verzichtet die Komposition auf Worte. In dem Maße, wie Antigone außer sich gerät, kommt die Musik zu sich.
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Antigone-Tribunal an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund
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Thomas Rothschild – 10. März 2019 ID 11270
ANTIGONE-TRIBUNAL (Nord, 09.03.2019)
Musikalische Leitung: Christopher Schmitz
Regie und Bühne: Blanka Rádóczy
Kostüme: Andrea Simeon
Dramaturgie: Christoph Sökler
Besetzung:
Antigone ... Carina Schmieger
Kreon ... David Kang
Haimon / Tiresias ... Ida Ränzlöv
Chor der Bürger*innen
Musiker*innen des Staatsorchesters Stuttgart
Uraufführung an der Staatsoper Stuttgart: 9. März 2019.
Weitere Termine: 10., 12., 14., 16., 10., 20., 22., 23., 26., 28.-31.03.2019
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de/
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