Valery & Georg als
Reservoire Dogs
(Wilde Hunde)
frei nach
Quentin Tarantino
Ein Remake
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Valery Tscheplanowa in molto agitato an der Staatsoper Hamburg | Foto (C) Monika Rittershaus
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Bewertung:
Live-Videos und "richtige" (= vorproduzierte und vorher gefilmte) Videos zählen zu den mit bestimmendsten Stilmitteln in fast allen Inszenierungen Frank Castorfs. Sie sind sein Alleinstellungsmerkmal. Und obgleich sie schon seit Jahren und Jahrzehnten von mehr oder weniger begabten Nachwuchsregisseuren kopiert oder gar "fortentwickelt" werden, sind sie immer noch als einmalig und unverwechselbar erkennbar, falls einem das Glück erhaschen sollte, sie in echt zu sehen und zu rezipieren.
Gestern Abend trieb der Maestro es dann wieder einmal auf die Spitze, und zwar mittendrin in molto agitato, seinem Regiedebüt an der Hamburgischen Staatsoper:
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molto agitato an der Staatsoper Hamburg: Georg Nigl vor der Kinoleinwand, wo gerade eine der Gewaltszenen aus Quentin Tarantinos Reservoir Dogs zu sehen ist... | Foto (C) Monika Rittershaus
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Zuerst ließ er, als Georg Nigl "Das Lied vom Herrn von Falkenstein" (aus den Vier Gesängen von Johannes Brahms) sang, eine Gewalt- und Folterszene aus Reservoire Dogs von Quentin Tarantino [s. Filmplot unten] auf der Riesenleinwand oberhalb des Baritons und seines Pianisten Rupert Burleigh aufflimmern, und zwar im englischsprachigen Original, um sie was später als ein nachgedrehtes Remake mit der Schauspielerin Valery Tscheplanowa (als Folteropfer) und dem Bariton Nigl (als Folterer) zu wiederholen.
"Ein Überfall wird geplant, der offenbar schiefläuft. Der Zuschauer bekommt ihn aber nicht zu sehen, nur seine Vorbereitung und seine Folgen. Alle finden sich allmählich in einem alten leeren Lagerhaus wieder. Einer hat einen Bauchschuss erlitten und stirbt den ganzen Film über, ein anderer hat einen Polizisten im Kofferraum seines Wagen und foltert ihn, indem er ihm ein Ohr abschneidet, am Schluss trifft der Boss ein und versucht, die Situation zu klären, denn es wird klar, dass das Scheitern des Überfalls auf einen Maulwurf zurückzuführen ist. Die Polizei wusste davon und hat geschossen. Alle sind misstrauisch auf den jeweils anderen, einer scheint die Diamanten zu haben, irgendwann liegen 2 Tote auf dem Boden..." (Quelle: Programmheft zu molto agitato)
Das entpuppte sich als visuelles Highlight seines zweistündigen Staatsoper-Einstandes an der Elbe.
[ Zur Erklärung: Eigentlich sollte der Castorf Boris Godunow inszenieren. Klappte nicht, wegen Corona. Staatsopernintendant Georges Delnon und sein Generalmusikdirektor Kent Nagano suchten nach einer pandemietauglichen Alternative; und dem Vernehmen nach schlugen sie Castorf eine Liste loser Stücke vor, deren gemeinsamer Nenner "Hamburger Komponisten" (außer Weill natürlich) sein sollte, also mit Werken oder Werkausschnitten von Händel, Brahms und Ligeti; Händel spielte als junger Mann Violine und Cembalo an der 1678 eröffneten Gänsemarktoper, Brahms wurde in der Hansestadt geboren, und Ligeti unterrichtete dort von 1972 bis 1989. Und Castorf ließ sich auf die Liste ein, wobei er eher noch beim nichthamburgischen Kurt Weill und dessem satirischen Ballett Die sieben Todsünden (nach einem Text von Bertolt Brecht!) hätte "fachlich" mitreden können... ]
Doch ehe wir uns weiter groß verlieren, hier die wohlwollende Nachbetrachtung zu dem sonstigen Gehörten und Gesehenen - außer der beiden Filmsequenzen [s.o.]:
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Die sog. "Ankunft der Königin von Saba" (aus Händels Solomo) eröffnete den durchgespielten und bebilderten Konzertabend; Nagano dirigierte ein sich aus zehn Musikern zusammensetzendes Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, leicht und flink - währenddem war der bis unendlich weit nach hinten einsehbare nackte Bühnenraum, den Aleksandar Denic nur mit ein paar Requisiten hie und da möblierte, einsehbar; die fünf Akteure schritten auf uns zu, ja und man hätte denken können, bis sie so ihr Ziel erreichten, dass es ewig (wegen dieses Großraums) dauerte...
Dann fuhr von links ein Podium rein, auf dem acht ausführende Instrumentalisten für György Ligeti's Nouvelles Aventures, einer etwa 12minütigen lautmalerischen Komposition mit hörbar eindeutigem Witzeinschlag, positioniert waren; und das Gesangstrio mit Katharina Konradi, Jana Kurucová und dem Nigl persiflierte sich mit lauter "a" und "e" und "i"...
Matthias Klink sang daraufhin die ersten drei der Vier Gesänge von Johannes Brahms; er klärte uns noch kurz darüber auf, warum er eigentlich dann hier wäre ("wegen der Kohle" oder so) und dass er sich auch nicht von einem Psychopathen unterfuchteln lassen wollte - auf der Stelle folgten prompt die ersten Lacher dieses kurzweiligen Abends...
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Katharina Konradi und Georg Nigl unter ihrer filmisch angereicherten Szene nach Händels Aci, Galatea e Polifemo in der Castorf-Inszenierung molto agitato an der Hamburgischen Staatsoper | Foto (C) Monika Rittershaus
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Bei den lustigst überfilmten Ausschnitten aus Händels Aci, Galatea e Polifemo - mit Konradi, Kurucová, Nigl - klebte man mit seinen Augen vollends auf der Leinwand, wo die Handlung um die unglückliche Liebe eines Zyklopen zu einer Nymphe als computeranimiertes Soft-Porno verständlich nachvollziehbar wurde; und wir fragten uns im Nachhinein: Wer waren wohl die Macher des genialen Filmchens; im Programmheft gab es dahingehend keinen Urheber-Nachweis.
Ja und das Beste kam zum Schluss - die (zugegeb'ner Maßen etwas künstlich vor sich her zitternde) Singschauspielerinnen-Stimme Valery Tscheplanowas meisterte kongenial ihre Partie der Anna 1 aus Weills Die sieben Todsünden; Nagano wählte die Fassung für 15 Spieler von HK Gruber und Christian Muthspiel, d.h. dass alle Chorpassagen dieses ca. halbstündigen Stücks von dem superb aufeinander abgestimmten Gesangsquartett gemeistert wurden.
Das definitive Finale des Abends bestimmte ein auf die Bühne fahrender Jeep, und das US-amerikanische Sternenbanner spielte auch eine leitmotivische Rolle - einmal fuhr es als überdimensionale und uns Zuschauer blendende Leuchttafel nach vorn, dann brannte es als Flagge lichterloh, um kurz darauf wieder als neu gekaufter Lappen hin und her geschwenkt zu werden. Und Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki steckte die Agierenden, wie stets bei Castorf-Produktionen, in amerikanisch aussehendes Tussi- oder Loser-Outfit.
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Fazit von dem Allem:
Der sog. amerikanische Traum (in Zeiten von Corona und besonders unter Trump) ist illusorisch ergo scheiße!!!
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Schlussszene aus molto agitato von Frank Castorf an der Hamburgischen Staatsoper | Foto (C) Monika Rittershaus
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Andre Sokolowski - 6. September 2020 ID 12441
molto agitato (Hamburgische Staatsoper, 05.09.2020)
Ankunft der Königin von Saba aus Salomo HWV 67 von Georg Friedrich Händel
Nouvelles Aventures (1965) von György Ligeti
Vier Gesänge op. 43 von Johannes Brahms
Aci, Galatea e Polifemo HWV 72 von Händel
Die sieben Todsünden von Kurt Weill
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung: Frank Castorf
Bühnenbild: Aleksandar Denic
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Video: Andreas Deinert, Kathrin Krottenthaler und Severin Renke
Licht: Lothar Baumgarte
Dramaturgie: Johannes Blum
Mit: Katharina Konradi, Jana Kurucová, Matthias Klink, Georg Nigl und Valery Tscheplanowa
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Premiere war am 5. September 2020.
Weitere Termine: 08., 12., 15., 21., 23., 26.09.2020
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-hamburg.de/
http://www.andre-sokolowski.de
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