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Neue Musik

Großes Klangspektrum




Jedes Jahr im Januar, wenn es in Berlin so richtig kalt ist, verbünden sich Deutschlandradio Kultur und das Kulturradio des RBB zu einem ambitionierten Festival der Gegenwart.

ULTRASCHALL BERLIN 2016 eröffnet mit einem Konzert amerikanischer Musik aus den letzten 30 Jahren, nicht Steve Reich, nicht Philip Glass - sondern die in Deutschland eher unbekannten Komponisten Aaron Jay Kernis, Philip Lasser, Gene Pritsker und Roberto Sierra stehen auf dem Programm. Kristjan Järvi leitet das Deutsche Symphonie-Orchester:

Aaron Jay Kernis schöpft gern aus der Musik der Vergangenheit. Sein Stück Musica Celestis startet mit Sequenzen aus Richard Wagners Lohengrin. Wagners Musik ins Amerikanische übersetzt, könnte man sagen. Sphärische klar erkennbare Motive begleiten die drei Sätze. Auch Philip Lasser orientiert sich in seinem Stück The Circle and the Child für Klavier und Orchester an europäischen Traditionen. Ein von Johann Sebastian abgelauschtes Motiv erzeugt verträumte Passagen, Solistin Simone Dinnerstein ist mit ihren Aktionen im Orchesterklang voll integriert, man denkt an Bartóks 2. Klavierkonzert. Nach der Pause geht es dann gegenwärtiger zu. Gene Pritsker ist ein Multitalent, neben der Klassik ist er auch im HipHop und im Rock unterwegs. In 40 Changing Orbits startet er in der amerikanischen Minimal Music, verschmilzt dies dann mit verschiedenen sehr percussiven Schichten, aber auch wieder sehr tonalen Elementen. Die amerikanischen Musiker scheuen sich nicht vor Emotionalität in der Musik. So auch nicht Roberto Sierra - Concerto for Saxophones and Orchestra hat er dem Saxophonisten James Carter auf dem Leib geschrieben. Die Auseinandersetzung mit Klangeffekten und übermütigen Spieltechniken prägen das Stück. Im 3. Satz kommt man sich vor wie in einem New Yorker Jazzclub. Kristjan Järvi lässt sich voll auf diese unkonventionelle Musik ein und tanzt mehr als dass er dirigiert. Neue Musik zu Mittanzen!

Das Solo-Recital von Matthias Engler im Radialsystem V verlangt viel von den Zuhörern. Mit der Uraufführung eines Stückes von David Brynjar Franzsons und eines Stückes von Hannes Seidl befinden wir uns ganz im Elfenbeinturm der Neuen Musik: elektronisch verwischte Minimalaktionen ohne erkennbare Entwicklung oder Dramaturgie lassen einige Zuhörer ratlos zurück. Eine reichhaltige Anzahl von Klangeffekten lockert zumindest das Stück Die Illusion zu erzeugen, dass die Zeit dynamisch und bedeutsam vergeht von Hannes Seidl etwas auf, doch wenn zum zweiten Mal eine Eisenkette auf eine Metallplatte fällt, ist dieser Effekt auch verpufft. In der Mitte des Programms steht ein Klassiker der modernen Schlagzeugliteratur: Psappha von Iannis Xenakis. Matthias Engler geht die anspruchsvolle Partitur sehr prosaisch und trocken an. Die von Xenakis wunderbar gelegten horizontalen Linien gehen durch diese trockene Art leider verloren. Es gibt eine schöne Aufnahme der taiwanesischen Percussionistin Ying-Hsueh Chen auf Youtube. Da kann man hören, was neben der technisch/mathematischen Komponente noch in Psappha steckt.

* *

Zwischen dem unterhaltsamen Eröffnungskonzert und dem Solo-Recital von Matthias Engler liegen Welten, und das ist gut so. Schön dass in Berlin sowas möglich ist!
Steffen Kühn - 24. Januar 2016
ID 9095
DEUTSCHES SYMPHONIE-ORCHESTER BERLIN (Großer Sendesaal des rbb, 20.01.2016)
Aaron Jay Kernis: Musica Celestis (1990) für Streichorchester
Philip Lasser: The Circle and the Child (2013) für Klavier und Orchester
Gene Pritsker: 40 Changing Orbits (2012) für großes Orchester
Roberto Sierra: Concerto for Saxophones and Orchestra (2002)
James Carter, Saxophon
Simone Dinnerstein, Klavier
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Dirigent: Kristjan Järvi

SOLO-RECITAL MATTHIAS ENGLER (Radialsystem V, 23.01.2016)
David Brynjar Franzson: The Cartography of Time (2015) für gestrichenes Solo-Becken und Live-Elektronik (UA)
Iannis Xenakis: Psappha (1975) für Schlagzeug solo
Hannes Seidl: Die Illusion zu erzeugen, dass die Zeit dynamisch und bedeutsam vergeht (2006) für Schlagzeug und 4-Kanal-Elektronik
Matthias Engler, Schlagzeug
Matthias Erb, Klangregie


Weitere Infos siehe auch: http://ultraschallberlin.de


Post an Steffen Kühn

http://www.hofklang.de

Neue Musik



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