FRAUKE
AULBERT
Akrobatische Urlaute
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Frauke Aulbert | Foto (C) Christa Blenk
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Mit der deutschen Stimmkünstlerin Frauke Aulbert wurde am vergangenen Freitag das Festival Artescienca 2015 eröffnet.
Diese akrobatische Stimmperformerin hat vier Oktaven Stimmumfang aufzuweisen und ist auf neue, zeitgenössische Musik spezialisiert.
Aulbert jonglierte sich durch die Musik von Aperghis, Kaul, Scelsi, Cage und Drouin. Die von ihr ausgewählten Stücke unterstreichen die Vielseitigkeit ihrer Stimme von lieblich-süß bis aggressiv-künstlich – und noch viel weiter!
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Vor uns auf der Bühne stehen ein Pult, eine Kiste und vier paar Schuhe. Aulbert tritt in Strass-Sandalen auf und beginnt mit Georges Aperghis Nr. 11 from Recitations per voce sola. Eine Hommage an Gertrude Stein?
Schuhwechsel zu grünen Pumps und Matthias Kaul Silence is my voice. Die dicke Backe zeugt nicht von plötzlichen Zahnschmerzen, sondern ist auf das Mikrofon im Mund zurückzuführen, welches dann im Verlauf des Stückes unter Knurren, Rumpeln, Schlucken, Rattern, Rauschen, Schnurren, Knacken, Klirren langsam zu einer roten Kaugummimasse im Mund verarbeitet wird, was sie aber nicht hindert, unbeschwert und unverständlich weiterzusprechen oder zu kauen. Ironisch schlägt sie den Diapason an die Schläfe und hat ihn auch gleich wieder gefunden - den richtigen Knautschton!
Zu Saul I und II für zwei Frauenstimmen (eine davon eine Registrierung von Isabelle Scelsi) von Giancinto Scelsi schlüpft sie in die roten Pumps. Das nun einsetzende Gurgeln und Quietschen, Brüllen, Zirpen oder Blätterrascheln war eine Reise durch das Dschungelbuch. Fantastisch!
Für Krr improvvisazione tematica su sovratoni e suoni multifonici (von ihr selber!) trägt sie grüne Schuhe mit gelben Schleifchen. Es stellt sich heraus, dass die Kiste auf der Bühne ihre Requisitenkiste ist. Aulbert stülpt sich nach und nach Perücken, Brillen, Mützen, Kopfhörer, Taucherbrille auf den Kopf oder auf die Nase, die in der Folge wieder auf den Boden fliegen. Von der Freiheitsstatue bis zu Micky Minni führt sie alle amerikanischen Symbole vor – vielleicht aber auch nicht.
John Cages Sonnekus evoziert eine Art Gebet oder Lamento, theatralisch büßend und deshalb barfuß vorgetragen.
Aulbert verschwindet nun von der Bühne, um kurz darauf in schwarzen Pumps zurückzukehren. Das Hauptstück des Abends, L’éloge du manque für Stimme und life electronics vom französischen Komponisten Geoffroy Drouin, hat begonnen. Drouin lebt in Rom und Paris und war anwesend! Die Beiden [Aulbert/Drouin] haben diese strukturierte Improvisation gemeinsam vor zwei Monaten für das Palais de Tokyo in Paris [Festival Extension, 7. Mai 2015] erarbeitet und dort uraufgeführt. Die Performerin hat sich hier selber übertroffen und uns die Angst und Panik übermittelt, die nur eine große Leere oder künstlerische Ohnmacht hervorrufen kann. Es geht ganz harmlos los: Eine Sängerin bereitet sich auf den großen Auftritt vor, aber die Stimme will nicht kommen. Zu sehen war für uns erstmals nur die kapriziöse Mimik und manieristische Gestik einer großen Diva. Mit einem Es-wird-gleich-klappen-Schmunzeln trinkt sie einen Schluck Wasser, aber es passiert nichts. In den nun ca. 20 folgenden Minuten erleben wir die Entstehung der Panik vor der Leere, vor dem Vakuum oder vor dem Unkontrollierbaren. Sie gerät über immer größer werdenden Ärger, der sie fast die schwarze Wand am Bühnenende einschlagen lässt, in eine selbstzerstörerische, dramatische und hoffnungslose Verzweiflung, die von unbeschreiblichen Kaspar-Hauser-Urlauten begleitet wird und sie schließlich in einer Art Geburtswehen bedauernswert und hilflos wie ein Häufchen Unglück auf den Boden wirft, Wörter und Erlösung suchend. Selbstquälerisch kommen die ersehnten Vokabeln aus einem Lautsprecher, bis irgendwann die Befreiung einsetzt und ihr Mund Töne heraus lässt. Auch das Publikum atmet nun auf und löste sich aus seiner Fast-Schock-Starre. Rasender Applaus. Diese Künstlerin ist unerreichbar!
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Frauke Aulbert ist ein aufkommender Star und bewegt sich auf allen auch internationalen zeitgenössischen Parketten. Sie nimmt an den Darmstädter Ferienkursen teil und hat in Kiel, Santa Cruz de Tenerife und Hamburg studiert. Obertongesang in zeitgenössischer Musik lautet das Thema ihrer Diplomarbeit. 2016 ist sie als Stipendiatin an die Akademie Schloss Solitude nach Stuttgart eingeladen.
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Das ist Frauke Aulbert während ihrer Performance beim Festival Artescienca 2015 | Foto (C) Christa Blenk
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Christa Blenk - 6. Juli 2015 ID 8749
Weitere Infos siehe auch: http://www.stimmkuenstlerin.de/
Post an Christa Blenk
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