DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFEL- HÖLZERN
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Premierenmotiv zu Das Mädchen mit den Schwefelhölzern an der Deutschen Oper Berlin - Motiv (c) Stan Hema
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Der Beginn der Zweitvorstellung von Das Mädchen mit den Schwefelhölzern verzögerte sich gestern Abend um fast eine halbe Stunde. Die KassiererInnen wurden einem ungeahnten Ansturm Menschen, die die Oper unbedingt dann hören sowie sehen wollten, kaum noch Herr - ein gutes Omen für die jüngst gestartete Saison der bald 100 Jahre werdenden Deutschen Oper Berlin unter ihrem neuen Intendanten Dietmar Schwarz!
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Helmut Lachenmann (77) zählt zu den gottlob überhaupt nicht einzuschubladenen Tonsetzern unserer Gegenwart. Obgleich er sich erklärtermaßen "Anregungen" von Stockhausen oder Nono, dessen (einziger) Schüler er in jungen Jahren einstmals war, geholt hätte, bleibt seine Art und Weise, seriell Musik zu machen, einzigartig und nicht einordbar. Der Dirigent Lothar Zagrosek - der bereits die Uraufführung von dem Mädchen (1997) und nunmehr die überfällige Berliner Einstudierung übernahm und musikalisch leitete - lässt sich, danach befragt, wie lange er den Komponisten eigentlich schon kennt, wie folgt in einem Interview fürs hausinterne Magazin der DOB vernehmen: "Seit Mitte der 70er Jahre. Damals war er der umstrittene Komponist schlechthin in Deutschland, angefeindet von allen Seiten. Diese Kontroversen hat er auch selbst immer wieder ausgelöst. Er ist ein sehr scharfer Denker, Argumentierer und Sezierer, das hat ihm natürlich nicht nur Freunde eingebracht. Aber das ist lange her. Heute ist er eine Instanz, eine Ikone."
Nach drei Textvorlagen (s. o.) ist das Lachenmann'sche Mädchen klanglich oder noch vielmehr geräuschlich mittels zerstückelter Silben, Konsonanten oder Schnalzgeräuschen hörlich feststellbar. Das Sprachliche erscheint dekonstruiert - es ist, mit andern Worten, "unverständlich" und verlangt vom Rezipienten eine übers Herkömmliche raus reichende und v. a. willige Betrachtungsweise. Dass das in dem voll besetzten Saal gut funktioniert (und lediglich ein paar vereinzelte, aber diskret-disziplinierte Flüchtende sollten, am Rande des Geschehens, registriert gewesen sein), dürfte als zwingendes Indiz FÜR eine Suggestionskraft, die den Klängen und Geräuschen ganz zu eigen ist, gewertet sein.
Das storyfreie Stück (= "Musik mit Bildern") haben sich die Macher David Hermann (Inszenierung), Christof Hetzer (Bühne und Kostüme), Sommer Ulrickson (Choreografie) und Martin Eidenberger (Video) mit einem schon in Stephen-King-Manier gehaltnen (Film-)Plot irgendwie zueignen machen können - ihr Kalkül geht auf:
Ein vierstöckiges Riesenpuppenhaus einschl. Keller-/Bodenebene wird hier zum Ort einiger merkwürdiger und das Lachenmann'sche Opus durch und durch "ergänzender" Begebenheiten. Und man ahnt drei Schwestern ungefähr im gleichen Alter, deren eine (Bini Lee) sich durch einen von unten nach oben windenden Lichtschacht hoch und runter, hin und her bewegt, mitunter wird sie der Verfolgung eines Manns im Schacht (Ahmed Soura) panikhaft gewahr und stirbt, am Schluss der inszenierten Hilfshandlung, den Kältetod nah ihrer Großmutter (Florian Bilbao), die letztendlich auch, wie aus dem Nichts, auf einer Freiterrasse rechts nebem den Boden auftaucht; zuvor wurde das Mädchen dort bereits als Hobbybombenbauerin auffällig, also Gudrun Ensslin sowie Mädchen mit den Schwefelhölzern parallel/zugleich... Ihre zwei Schwestern (Hulkar Sabirova, Yuko Kakuta) sind sich die ganze Zeit allein, im Wohn- oder Musikzimmer des Riesenpuppenhauses, überlassen, lesen aus dem Andersen-Buch jenes Schwefelhölzermärchen und geraten mehr und mehr in überspannteste Gefühlslagen; ein sog. Nasser Onkel (Benjamin Block), aller Wahrscheinlichkeit nach ein entfernterer Verwandter oder Poltergeist (des Riesenpuppenhauses) bringt vom Einkaufen Silvesterknaller mit, die er in leere Flaschen stellt... Im Arbeits- oder Herrenzimmer über den Geschwistern sitzt ein sog. Cinceast (Steffen Scheumann), der womöglich als der Vater der drei Schwestern identifizierbar sein könnte, und guckt sich einen von ihm selber einst gedrehten Videofilm mit (s)einer (Ex-)Frau (??) an - die wird auf dem Programmzettel als "Das Mädchen im Regal" (Jennie Gerdes) bezeichnet; doch vielleicht ist es am Ende gar nicht seine Frau, sondern eine von ihm Missbrauchte und/oder Benutzte, also sexuellerseits??? Auf jeden Fall verselbständigt sich dieses sog. Mädchen im Regal und tut sich unserm Cineasten, sehr bedrohlich übrigens, hinzugesellen oder wiederannähern o. s. ä. / Rätsel über Rätsel, aber szenisch gut gemachte.
Hauptattraktion der zweistündigen Aufführung ist das Orchester der Deutschen Oper Berlin! Es ist in einer so noch nie zu sehen und zu hören gewesenen Großformation ums Riesenpuppenhaus herum positioniert; auch auf den Seitenrängen sowie hinten in der Mitte vom Parkett ist es voll in Aktion. Und insbesondere den Musikern von diesem Klangkörper dürfte dann der Erfolg dieser mit Superlativen nur so überhäuft zu werden müssenden Produktion geschuldet sein - Hut ab!!
Auch der 32köpfige Chor mit jeweils vier Gesangsquartetten (Choreinstudierung: William Spaulding) leistet beeindruckend Phänomenales - und so sieht man jene Damen und Herren sich permanent mit ihren Stimmgabeln vom "aktuellen" Ton dann überzeugen...
O, was für ein Werk!!!
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Andre Sokolowski - 20. September 2012 ID 00000006222
DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN (Deutsche Oper Berlin, 19.09.2012)
Musikalische Leitung: Lothar Zagrosek
Inszenierung: David Hermann
Ausstattung: Christof Hetzer
Choreographie: Sommer Ulrickson
Video: Martin Eidenberger
Besetzung:
Solosopran 1 ... Hulkar Sabirova
Solosopran 2 ... Yuko Kakuta
Das Mädchen ... Bini Lee
Der Cineast ... Steffen Scheumann
Das Mädchen im Regal ... Jennie Gerdes
Der Mann im Schacht ... Ahmed Soura
Der nasse Onkel ... Benjamin Block
Die Großmutter ... Florian Bilbao
Solopianistinnen ... Yukiko Sugawara / Tomoko Hemmi
Shô ... Mayumi Miyata
Chor der Deutschen Oper Berlin
(Choreinstudierung: William Spaulding)
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Uraufführung war am 26. Januar 1997 an der Hamburgischen Staatsoper
Berliner Premiere war am 15. September 2012 an der Deutschen Oper Berlin
Weitere Termine: 22., 23. 9. 2012
Weitere Infos siehe auch: http://www.deutscheoperberlin.de
http://www.andre-sokolowski.de
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