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musikfest berlin 2010 (3. September)

ERÖFFNUNGSKONZERT
FOLKSONGS I
London Symphony Orchestra / Dirigent: Daniel Harding



"Folk Songs. Das war 1964 eigentlich nichts für einen Avantgardisten. Schon mit dem Titel nahm man zwischen Hippie-Bewegung, linken Freiheitsliedern und Biedermeierverdacht Platz. Luciano Berio wusste das. Er hatte eine entscheidende Karte in der Rückhand. Einen Komponisten, der damals eine Renaissance erfuhr: Gustav Mahler. Wie viele Folk Songs geistern durch dessen Musik. Nicht nur Texte aus Des Knaben Wunderhorn, die er zu Liedern erhob und teilweise mit oder ohne Worte in Symphonien transplantierte. Auch Volksmelodien durchschweifen seine musikalischen Riesenlandschaften. Hier setzte Berio an. Hier dachte, hier machte er weiter. Mit Folk Songs aus aller Herren Länder von Armenien und Aserbeidschan über Italien und Frankreich bis nach Nordamerika. Er stellte sie in eine neue Umgebung. In seine Umgebung. Er organisierte fremde Nähe wie Mahler.

Nach den
Folk Songs kam, wie bei Mahler, die Sinfonia. Sie ist, besonders in ihrem mittleren Satz, eine »Überschreibung« von Mahlers Zweiter, der Auferstehungssymphonie). Ihr Mittelstück, das »Weltlauf-Scherzo« diente Berio als Gefäß, in das er allerhand »musikalische Mythen«, Andeutungen und Anspielungen von Bach bis Stockhausen gab. Mahler ordnet die Späne wie ein Magnet unter Glas. Berio bewegt ihn.

Übrigens ist die Idee vom Transit geliehenen Materials älter als Mahler. Berlioz’
Harold en Italie bietet dafür das beste Beispiel. Hier geben sie symphonische Gastspiele, die Pilgergesänge, die Melodien der Pifferari, die schwermütigen Lieder zur (ewigen) Nacht und die elektrisierenden Tänze der Volksfeste. Und wo sind wir, die Hörer? Nun, es gibt wohl kaum anregendere Reiseliteratur als diese komponierten Kreuzfahrten durch die Stile, die Ausdrucksformen, die Erlebnisweisen und die Geschichtslandschaften der Musik." (Aus: http://www.musikfest-berlin.de)


*



Kelley O’Connor singt die mehrsprachigen elf Folk Songs. Und wir lernen hier, am leichtesten, uns mit Luciano Berio (1925-2003), der sie 39jährig komponierte, anzuwärmen. Es ist, in der Tat, eine sehr warmherzige, eine schier zu Herzen gehende Musik. Die Mezzosopranistin - die wir schon bei der Eröffnung von den London PROMS in diesem Sommer live erleben konnten - führt eine geradezu unglaubliche Verwandlung ihrer Stimme vor; bei einem Lied vermeinte man sogar, 'nen Mann gehört zu haben. Sagenhaftes Weib!!

In Berios Sinfonia gibt es einen hochberühmten dritten Satz. Da brachte er das Kunststück fertig, Mahlers Scherzo aus der sog. AUFERSTEHUNGSSINFONIE fast durchgängiger Weise in der (etwas abgespeckten) O-Fassung quasi als "Unterlage" für Darauf-Ablagerungen anderer Ideen, die in diesem irren Satz nur so dahin-/dahersprudeln, zu nutzen. Stellenweise klingt das Ganze so, als hätte man auf Hoher See mit einem Kurzwellenempfänger, der drei, vier, fünf Sender gleichzeitig aus sich verlauten lässt, zu kämpfen. Und die Synergy Vocals singen und quatschen Einen zusätzlich noch bis zur allerletzten Hirnwindung nach oben zu - - ja, sagenhaft!!! Auch hier.

Und woher schließlich noch Tabea Zimmermann, die in dem Berlioz'schen Melodram vom HAROLD IN ITALIEN justament den Bratschen-Part superber Weise übernahm, die allerleisesten der leisen Töne herzaubert: ein Rätsel und Geheimnis sondergleichen.

Duftmarkengerecht - mit den Betonungen auf Düfte - war der Gastauftritt des London Symphony Orchestra unter Leitung des genialisch aufgelegten Daniel Harding.


Andre Sokolowski - 4. September 2010
ID 4803
MUSIKFEST BERLIN (03.09.2010, Philharmonie)
Berio: Folk Songs für Mezzosopran und sieben Instrumente [1964]
Berio: Sinfonia für 8 Singstimmen und Orchester in 5 Sätzen [1968]
Berlioz: Harold en Italie
Kelley O’Connor, Mezzosopran
Tabea Zimmermann, Viola
Synergy Vocals
London Symphony Orchestra
Dirigent: Daniel Harding


Siehe auch:
http://www.musikfest-berlin.de





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