"Frei nach
Grillparzer"
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Programmheft-Cover der Semperoper Dresden zu Glanerts/Treichels Die Jüdin von Toledo | Bildquelle: semperoper.de
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Bewertung:
Die Jüdin von Toledo ist eine Legende über eine siebenjährige Liebesbeziehung zwischen dem kastilischen König Alfonso VIII. (1169–1214) und Rahel, einer schönen Jüdin. Sie ist die Tochter seines jüdischen Ministers Jehuda Ibn Esra. Unter den Bedingungen der Reconquista und nach dem Aufruf des Papstes zur Rückeroberung Jerusalems galt nicht nur den christlichen Zeitgenossen diese Beziehung als Gotteslästerung.
Der Mythos von der schönen Jüdin hat sich in die Kulturgeschichte eingeschrieben. Elvira Grözinger hat 2003 ein gleichnamiges Buch darüber geschrieben. Sie erkennt von der hebräischen Bibel über das Neue Testament bis ins 20. Jahrhundert jüdische und christliche Autoren, welche jüdische Frauengestalten in Opferrollen gedrängt oder ihnen verführerisch gefährliche Eigenschaften angedichtet haben. Die schöne Jüdin ströme einen Geruch von Vergewaltigung und Massaker aus, soll der französische Denker Sartre gesagt haben. Elvira Grözinger listet weitere Beispiele auf: Grillparzer ließ in seinem Trauerspiel Die Jüdin von Toledo die ermordete Rahel als geheimnisvolle Verführerin des unschuldigen Königs da stehen. Gerhard Hauptmann habe die jüdische Frau gar als Todbringerin bezeichnet.
Warum hat sich Detlev Glanert für sein neues abendfüllendes Musiktheaterwerk die Legende von der Jüdin von Toledo ausgewählt, fragt man sich verwundert? Was hat Hans-Ulrich Treichel bewegt, als er aus den historischen Überlieferungen „frei nach Grillparzer“ das Libretto für die Oper geschaffen hat:
"...die librettistische und musikalisch-kompositorische Annäherung an das Thema [...] kann und will nicht alle sich darbietenden kulturellen und diskursiven Gebirge ersteigen, um dann von oben herabzuwinken, sondern wird sich einen möglichst begehbaren Pfad durch das Genannte mit den ihr eigenen Mitteln bahnen: und das sind für den Komponisten die Ausdrucks- und Gestaltungsmittel der Musik und der menschlichen Stimme und für den Librettisten ist es die Sprache – oder genauer: das Sprechen der beteiligten Personen." (Hans-Ulrich Treichel im Programmheft)
In diesem rein menschlichen Sinn hat der kanadische Regisseur Robert Carsen die Uraufführung an der Dresdner Semperoper inszeniert. Der schwache König lässt sich von der Liebe zu der jungen Jüdin Rahel gefangen nehmen und vernachlässigt seine Pflichten als Staatschef. Seine Gemahlin Eleonore von England, hin- und hergerissen zwischen Kränkung und Eifersucht, fordert von ihrem Gemahl Staatsräson, bis er in den bevorstehenden Kampf gegen die Mauren und in die Ermordung Rahels einwilligt. Beim Segnen der Waffen für die Soldaten werden Videos von kriegerischen Zerstörungen, welche unsere täglichen Nachrichtensendungen beherrschen, eingeblendet. Am Ende blickt der kleine Sohn des Königs fragend ins Publikum.
Detlev Glanert liefert einen opulentem Klangzauber. Von faszinierend auftrumpfenden Zwischenspielen bis zu perfekt mit den Gesangspartien verwobenen Passagen, immer schimmern Emotionen in der Musik und die sich bei zeitgenössiger Musik oft einstellende Leere bleibt aus. Die Balance zwischen Erinnerungen an die Spätromantik und neuen, teilweise harten Aktionen ist perfekt austariert.
Warum aber dieser Stoff? Warum ein Stoff, welcher Jahrhunderte alte Vorurteile spiegelt? Und warum hat sich das Inszenierungsteam den Fragen und Zusammenhängen dieses Mythos (bis auf eine Szene, als sich im Hintergrund einer ausführlich zelebrierten Liebesnacht zwischen dem König und seiner Geliebten, Christen, Juden und Mauren respektvoll begegnen) nicht gestellt?
Leider überlagern diese unbeantworteten Fragen die außergewöhnliche Ensembleleistung. Jonathan Darlington führt die Sächsische Staatskapelle Dresden durch die kühnen Klippen der expressiven Partitur. Heidi Stober geht auf in der Figur der jugendlichen unbekümmerten Rahel. Differenziert gestaltet Christoph Pohl seine ambivalente Rolle als schwacher König Alfonso. Das ist die perfekte Vorlage für Tanja Ariane Baumgartner als machtbewusste und triumphierende Königin Eleonore. Und Markus Marquardt als Marnrique, Graf von Lara und Lilly Jørstad als Rahels Schwester ragen als Primus inter pares aus dem Ensemble. Der von Jonathan Becker fabelhafte präparierte Staatsopernchor behauptet sich auch in den harschestes Orchestertuttis immer souverän.
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Steffen Kühn - 10. Februar 2024 ID 14597
DIE JÜDIN VON TOLEDO (Semperoper, 10.02.2024)
von Detlev Glanert (Komposition) und Hans-Ulrich Treichel (Libretto)
Musikalische Leitung: Jonathan Darlington
Inszenierung: Robert Carsen
Bühnenbild: Robert Carsenu und Luis F. Carvalho
Mitarbeit Regie: Gilles Rico
Kostüme: Luis F. Carvalho
Licht: Robert Carsen und Peter Van Praet
Videodesign: Martin Eidenberger
Choreografie: Marco Berriel
Choreinstudierung: Jonathan Becker
Dramaturgie: Martin Lühr und Benedikt Stampfli
Besetzung:
Rahel ... Heidi Stober
Esther, deren Schwester ... Lilly Jørstad
Alfonso VIII., König von Kastilien ... Christoph Pohl
Eleonore von England, dessen Gemahlin ... Tanja Ariane Baumgartner
Manrique, Graf von Lara ... Markus Marquardt
Don Garceran, dessen Sohn ... Aaron Pegram
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden
UA war am 10. Februar 2024.
Weitere Termine: 15., 18., 26.02./ 01., 08.03.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.semperoper.de
Post an Steffen Kühn
http://www.hofklang.de
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