Nicht
mimetische
Oper
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Icaro von Alessandro Baticci | Foto (C) Matthias Baus
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Bewertung:
Das JOiN, kurz für Junge Oper im Nord – „Nord“ heißt die Nebenspielstätte, in der auch die Probebühnen der Stuttgarter Oper untergebracht sind –, hat seit seiner Gründung vor 26 Jahren sein Profil mehrfach verändert. (Das JOiN? Das Junge Oper? Die Homepage will es so, also halten wie uns daran. Schließlich gibt es im nahen Ludwigsburg auch „das Scala“, weil es einmal ein Kino war. Das allerdings war „das JOiN“ nie.) Irgendwie versuchte es immer dem Attribut „jung“ gerecht zu werden, sei es mit Blick auf die Komponisten und Librettisten, sei es mit Blick auf die Darsteller, sei es mit Blick aufs Publikum. Verändern musste es sich schon als Reaktion auf das Hauptprogramm, das sich seinerseits unter verschiedenen Intendanzen verändert und Anregungen aufgenommen und wieder verabschiedet hat, die einst die Junge Oper kennzeichneten. Ohnedies ist „jung“ wohl eher als Metapher zu verstehen (wie beispielsweise beim Internationalen Forum des Jungen Films der Berlinale). Wer käme auf die Idee, von der „Alten Oper“ im Opernhaus zu sprechen? Eben.
*Seit Beginn dieser Spielzeit wird JOiN von einem neuen Team geleitet, von Martin Mutschler und Keith Bernard Stonum. Jetzt haben sie, nach einem szenischen Konzert, zum ersten richtigen Musiktheater – einer Kammeroper für zwei Darsteller – eingeladen, einer Uraufführung von Alessandro Baticci zu einem Libretto von Gabrielė Bakšytė und Franziska Betz unter dem Titel Icaro.
Man kennt sich. Martin Mutschler, der die Oper in Auftrag gegeben hat, der Komponist, die Librettistinnen und der Regisseur Alexander Fahima, der auch für Bühne, Licht und Video verantwortlich zeichnet, waren Stipendiaten der Akademie Musiktheater heute, einer Stiftung der Deutschen Bank. Icaro ist die auf eine Stunde erweiterte Neufassung eines kürzeren Werks, das vor zwei Jahren in Frankfurt am Main uraufgeführt wurde, wo die AHM und die Deutsche Bank ihren Sitz haben.
Die Vorgängerin der neuen JOiN-Leiter, Elena Tzavara, die mittlerweile zur Generalintendantin in Aachen aufgestiegen ist, hat bei der Auswahl der Komponisten nicht immer eine glückliche Hand bewiesen. Einige lieferten eine kümmerliche Musik, die auch Kinder falsch einschätzte, jedenfalls unterforderte. Mit vermeintlich kindgemäßen Stoffen allein ist zeitgemäßes Musiktheater für diese Altersgruppe nicht zu haben.
Bei Alessandro Baticci kann man einen Mangel an kompositorischer Komplexität nicht beklagen. Die hochdramatische atonale Musik kommt, mit üppig ausgekostetem Stereoeffekt, über Lautsprecher. Zur zunächst vorherrschende Elektronik mit ausgiebigen Geräuschen und bruitistischen Elementen gesellen sich nach und nach von einem kleinen Ensemble aus dem Staatsorchester Stuttgart eingespielte Instrumentalstimmen.
Zunächst werden auf eine breite Fläche, die an ein Fries denken lässt, abstrakte und surrealistische Grafiken projiziert. Das ist mehr Film in der Tradition von René Clair oder Norman McLaren als Oper. Dann erkennt man hinter der mittlerweile transparenten Wand die Umrisse der Sänger Andrea Conangla und Jacobo Ochoa. Sie schwingen, als wären sie Abgeordnete von Dan Flavin, Neonröhren mit wechselnden Farben. Dann aber folgt, was man auch in einer nicht mimetischen Oper erwarten darf: Gesang. Und der ist bewundernswert, nicht nur wegen der anspruchsvollen Partien, sondern vor allem wegen des eindrucksvollen Stimmumfangs der beiden Solisten.
Im zweiten Teil kommt die Kurzoper zum Thema: zu Menschen, die sich, wie der antike Ikarus, in die Vertikale begeben, als könnten sie fliegen. Die Autorinnen dachten an das sogenannte Roofing, eine moderne Variante des Fassadenkletterns. Als Bestandteil einer bizarren Jugendkultur könnte es tatsächlich eine Verbindung herstellen zum angepeilten jungen Publikum des JOiN, das die Premiere zu einem großen Teil füllte. Extrem kurze Filmschnipsel variieren das Motiv. Dazu bewegen sich, passend, fünf Statisten in Schwarz über die dunkle Bühne. In Ariane Mnouchkines Inszenierung L’age d’or stürzte ein algerischer Arbeiter von einem Baugerüst. Wie der Schauspieler im Stehen den Eindruck erweckte, er würde sich im freien Fall bewegen – das war ein Höhepunkt von Mnouchkines Theaterkunst. Ungefähr etwas in dieser Art muss sich auch der Regisseur von Icaro vorgestellt haben.
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Icaro von Alessandro Baticci | Foto (C) Matthias Baus
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Thomas Rothschild – 1. Dezember 2023 ID 14503
ICARO (Nord, 29.11.2023)
Kammeroper von Alessandro Baticci
Musikalische Leitung: Christopher Schumann
Regie, Bühne, Licht- & Videokonzept: Alexander Fahima
Bühne und Kostüme: Lisa Behensky
Mit: Andrea Conangla (Sopran) und Jacobo Ochoa (Bariton)
UA an der Staatsoper Stuttgart: 29. November 2023
Weitere Termine: 03., 06., 16.12.2023// 30.01./ 01.-06., 08., 10., 12.02.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de
Post an Dr. Thomas Rothschild
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