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„Etwas beginnt, etwas geht zu Ende – oder erfüllt sich. Aber dazwischen windet die Zeit sich ins Leben hinein, verflicht sich, verwächst sich, ist nur eines nie: gleichgültig, sondern immer gespannt, eingespannt zwischen einem Anfang, den man nicht wahrnimmt, weil man mit dem Leben beschäftigt ist, und einem Endpunkt, der in der Zukunft, also im Dunkel, liegt.“ (Jenny Erpenbeck, Kairos, S. 306)

*

Sprachlich verdichtet sich hier eine erstaunliche Reflexion über das Zeitempfinden in Beziehungen. Das Wort „Kairos“ leitet sich aus dem Altgriechischen ab und steht für eine geeignete Gelegenheit oder einen günstigen Zeitpunkt für eine Handlung, bezeichnet gleichfalls aber auch eine Gottheit.

2024 ging der internationale Booker Preis erstmals an Deutschland und dies einigermaßen überraschend an die Ost-Berliner Autorin Jenny Erpenbeck und ihren Roman Kairos (2021), der im Erscheinungsjahr hierzulande für keinen Buchpreis vorgeschlagen oder gelistet wurde. Die renommierte britische Auszeichnung gilt nach dem Nobelpreis als wichtigster internationaler Literaturpreis. Die 57-jährige Schriftstellerin ist international berühmt, und ihr Werk wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Kairos besticht durch eine musikalische Sprache, melodische Sätze etwa durch Satzteilwiederholungen:


„Katharina ist, nachdem sie sich geliebt haben, halb noch unter ihm liegend, ruhig eingeschlafen. Verhaftet werden oder verhaften, und an die Sache glauben, geschlagen werden oder schlagen, und an die Sache glauben, verraten werden oder verraten, und an die Sache glauben.“ (S. 261)


In Kairos begegnen sich die neunzehnjährige Katharina und der Mittfünfziger Hans, älter als ihr Vater, zufällig 1986 in Ostberlin. Sie fühlen sich zueinander hingezogen. Hans gesteht Katharina, dass er verheiratet ist und einen jugendlichen Sohn hat, bevor er mit ihr gleich am Tag des Kennenlernens schläft, und zwar im Ehebett. Sie beginnen eine innige Liebesbeziehung mit regelmäßigen intimen Begegnungen. Die Beiden bleiben bis zur Maueröffnung ein Liebespaar. Jenny Erpenbeck durchsetzt ihren etwa 380seitigen Roman mit Berliner Lokalkolorit und betrachtet am Rande Repressionen des DDR-Systems und seine schleichende Auflösung.

Kurz nach dem Kennenlernen von Hans, einem etablierten Schriftsteller, darf Katharina nach West-Berlin ausreisen, um dort ihre Tante zu besuchen. Hier schildert Erpenbeck sensibel Katharinas Perspektive, wenn sie die Situation am Ost-West-Bahnhof als unwirklichen Wendepunkt erlebt:


„Jetzt ist, auf einmal, alles umgekehrt, alles andersherum, jetzt ist sie hinter dem Bild, hinter dem, was vorher eine Oberfläche war von einem unerreichbaren Dahinter.“ (S. 86)


In Bewusstseinsströmungen hinterfragt Katharina ihre empfundene Selbstverortung:


„Aber wo ist dann sie, während sie genau auf der Grenze steht? Heißt das Niemandsland vielleicht deswegen so, weil einer, der da umherirrt, nicht mehr weiß, wer er ist?“ (S. 87)


Nicht nur Hans als bedeutender DDR-Schriftsteller, auch die Romanheldin Katharina erscheint als privilegiertere Bürgerin Ost-Berlins, da sie ihre Tante in West-Berlin problemlos besuchen und ihren Urlaub sogar verlängern kann. Hier zeichnet Erpenbeck ein wohlhabenderes, kunstinteressiertes Milieu. Katharina besucht das Berliner Ensemble, das Deutsche Theater oder die Volksbühne. Hans verkehrt mit Katharina oder seiner Gattin Ingrid in noblen Restaurants, bewegt sich in DDR-Künstlerkreisen und hat Zeit an literarischen Werken zu arbeiten. Katharina und Hans hören gemeinsam ausgedehnt klassische Musik. Während Katharinas gleichaltrige Freundin Sibylle bald aktiv gegen das Regime protestiert und von DDR-Beamten brutal untersucht wird, erlebt Katharina Vereinnahmung und Unterdrückung zunehmend in der Beziehung mit Hans. Hans plagen schon zu Anfang Verlustängste, wenn er ihr nach dem Abschied hinterher blickt:


„Nach wenigen Schritten dreht Hans sich noch einmal um, sie nicht. Von hinten sieht er ihre Statur, da ist sie schon ganz woanders mit ihren Gedanken, ist schon in dem Abenteuer, das ihr bevorsteht, im Niemandsland zwischen eben noch und dem Wiedersehen in einer Woche. So soll es sein. Nur er fühlt sich leer auf einmal, wie umgestülpt und auf sich selbst ausgeschüttet, der verdrehte Balg muss nun die eigenen Knochen schleppen, die Innereien und auch all das Fleisch, schwer drückt das auf Nacken und Schultern.“ (S. 85)


Kairos handelt von Schmerz, Begehren und Leichtgläubigkeit. Lauernd nimmt die Leidenschaft zwischen den beiden zerstörerische Züge an, als Hans, zunehmend eifersüchtig, Besitzansprüche an Katharina stellt. Er schickt ihr Kassetten, auf die er seine Gefühle und Vorwürfe aufspricht. Er bittet sie, hierzu schriftlich Stellung zu nehmen:


„Jedesmal nimmt er sie ihr, nachdem sie die Aufnahme gehört hat, wieder ab, löscht, was er zuvor gehört hat, und nimmt seine neuen Fragen und Kommentare auf. So, als schriebe er für sie nur noch mit Kreide. Nähme den Schwamm, löschte aus, schriebe neu, löschte wieder aus. Wären da nicht die Blätter mit ihren Notizen, würde sie manchmal glauben, sie träumte das alles. Wäre er nicht im Besitz ihres Gehirns, würde von alldem nichts bleiben. Ihr Gehirn sein Papier.“ (S. 243)


Die naiv-unbedarfte Katharina lässt sich vom übergriffigen, kontrollierenden, misstrauisch-argwöhnischen und bald krankhaft eifersüchtigen Hans im Romanverlauf demütigen und vereinnahmen. Als Leser fragt man sich, wie authentisch und glaubwürdig die Ungleichheit in ihrer Beziehung ist, obwohl sie es doch eigentlich besser weiß:


„Nein, Hans ist kein Gott.“ (S. 194)


Erpenbeck typisiert Hans ein bisschen als widerlichen, schnell enttäuschten und armseligen Narzissten, der sich selbst wenig entwickelt, aber Katharina stets mit seiner Sichtweise bedrängt. Katharina ordnet sich bedingungslos unter, wenn sie sogar ihren Kalender für Hans schreibt:


„In ihren Kalendernotizen war tatsächlich einzig von Hans die Rede gewesen, aber nur, weil sie nicht alles, was sie in den Frankfurter Monaten bewegte, in den Kalender eintrug. Seltsame Eigenschaft des Papiers, Dokument zu werden. Seltsame Eigenschaft des Papiers, Täuschung zu produzieren. Die eine Wirklichkeit von der anderen loszulösen. Eine Rangfolge von Wirklichkeiten zu begründen. Und während man dies liest und das und jenes, lebt in irgendeinem Niemandsland die unaufgeschriebene, andere Wahrheit doch weiter. Führt ein Eigenleben, auf immer und ewig, selbst wenn das eine Gehirn, das sie weiß, vergesslich wird oder zerfällt. Auch die Lüge muss gut gemacht sein, damit man sie glaubt, denkt Katharina in ihrer Berliner Nacht, da sie allein in ihrer Wohnung sitzt. Lüge als die Gestalt, in der die Macht der Machtlosen auftritt.“ (S. 269)


Katharina hält trotz der zahlreichen Avancen gleichaltriger Männer an der Beziehung zu Hans fest. Sie lässt sich unterwürfig ganz auf die Beziehung ein, spielt mit und liebt Hans unbeirrbar, obwohl ihre Eltern und Freude zu einer Trennung raten, weil Hans ihr sichtlich nicht guttut. Diese ungesunde Dynamik gipfelt in sexuellen Spielen, in denen sich Hans über lange Zeiträume an der nackt gefesselten Katharina ergötzt. Anders als Hans macht Katharina trotzdem im Romanverlauf eine Entwicklung und gewinnt über leidvolle Phasen an Stärke. Sie löst sich langsam von Hans, etwa wenn sie über seine empörenden Vorwurf nachdenkt, sie sei infam:


„Wie lange denn ist sie schon tot? Immer will sie Kraft haben für zwei und Zuversicht, immer versucht sie zu lachen und Ja zu allem zu sagen, aber je länger sie so nur ihrer beider Verzweiflung zudeckt, desto weiter entfernt sie sich von der Wahrheit. Aber hat sie nicht versprochen, von jetzt an immer ehrlich zu sein? Aber ehrlich zu sein, ohne die Freiheit zum Neinsagen ist unmöglich. Aber ihm Nein sagen, wenn er sich aus der Enttäuschung flüchtet in ihren Schoß? Immerhin will er sie noch, muss sie darüber nicht froh sein? Aber wenn sie unglücklich ist, verschließt sich alles in ihr. Dann wird aus der Hingabe doch eine neue Lüge. Die Aber stehen um sie herum wie ein Zaun, der unüberwindlich ist.“ (S. 282 f.)


Hier spielt die Symbolik offenkundig auf die DDR-Mauer an. Katharina und Hans leben gemeinsam keinen Alltag, da Hans die meiste Zeit weiterhin bei Ingrid und dem gemeinsamen Sohn Ludwig lebt. Sie verreisen jedoch mitunter gemeinsam, etwa nach Moskau.

Katharina geht während einer Arbeit als Kostüm- und Bühnenbildnerin am Theater Frankfurt an der Oder eine Liaison mit ihrem Kollegen Vadim ein. Später geht sie eine Beziehung mit Rosa ein. Während Hans Katharinas Beziehung zu Vadim sichtlich trifft und er sie hierfür mehrfach bestraft, nimmt er Katharinas sexuelle Beziehung zu einer Frau nicht als mögliche Konkurrenzbeziehung ernst und bittet sie sogar, ihm ihre Erfahrungen zu schildern. Leider schwächen Längen den atmosphärischen, sprachlich eindrücklich komponierten Roman, so werden Aufzeichnungen von ganzen sechs Kassetten thematisiert, in denen Hans Anklagen an Katharina aufspricht. Bald versucht sich Katharina in ihren Antworten nicht mehr zu rechtfertigen und schreibt auf, was sie tatsächlich dazu denkt:


"Als die Stimme von Hans verstummt, bleibt Katharina noch ein Weilchen so sitzen, mit den Kopfhörern auf den Ohren, wie eingeschneit, hört ihr Blut fließen und blickt auf das, was sie notiert hat. Neben die Satzfetzen von Hans hat sie manchmal etwas an den Rand geschrieben: 'Wenn ich rede, wenn ich schweige – alles wird nur noch gegen mich verwendet.' Bei einer anderen Zeile steht: 'Ja, warum wohl?' Und wieder an einer anderen Stelle: 'Die Umstände waren einfach die Umstände.'" (S. 287)


Mit den Kassetten hat Hans Unterdrückungs-Methoden der DDR sichtlich verinnerlicht. Schlussendlich muss auch Hans erkennen, dass die Verwirklichung des Sozialismus und der vorauseilende Gehorsam in der DDR ein Ende finden und bestimmte gesellschaftliche Themen alsbald kein tabu mehr sind.

Erpenbeck spielt in ihrem, insbesondere sprachlich eindrucksvollen Liebesroman mit naheliegenden autobiografischen Bezügen: Jenny Erpenbeck arbeitete wie Katharina im Roman gegen Ende der DDR an einem Theater. Die Figur des Hans dürfte angelehnt sein an DDR-Schriftsteller Heiner Müller, der in Kairos selbst mehrfach namentlich erwähnt wird, und dessen Assistentin Erpenbeck 1993 bei einer Bayreuther Tristan und Isolde-Inszenierung war. Heute ist Jenny Erpenbeck mit dem zwanzig Jahre älteren Dirigenten Wolfgang Bozic verheiratet, mit dem sie einen Sohn hat.

Ein effektvolles Springen zwischen unterschiedlichen Zeitebenen, eine sprachlich vielschichtige Komponiertheit und die Explizitheit und Offenheit von Kairos erscheinen bemerkenswert und mutig.


Ansgar Skoda - 21. Dezember 2024
ID 15075
Penguin-Link zu Kairos von Jenny Erpenbeck


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