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Dokumentarfilm

Ambivalenzen



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Mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler 1933 spalteten sich etliche deutschsprachige Literaten in Emigranten und Gebliebene. Anatol Regnier stellte im Jahr 2020 in seinem Buch Jeder schreibt für sich allein einige signifikante Biografien zusammen, aus denen der Regisseur Dominik Graf ein fast dreistündiges und bis zur letzten Minute spannendes Filmessay schuf. Darin führt Anatol Regnier (geb. 1945 als Sohn von Charles Regnier und Pamela Wedekind) uns auf die noch vorhandenen Spuren einiger Schriftsteller. Eine ganze Riege von Mitte der 1940er Jahre geborenen Autoren und Literaturwissenschaftlern hat sich schon lange und ausführlich mit diesem Sujet beschäftigt und steuert ihre Erkenntnisse bei, darunter Albert von Schirnding, Christoph Stölzl, Gabriele von Arnim und Floran Illies (* 1971). Graf verwendet eindrückliches Dokumentarmaterial. Dieses und die Interviews präsentiert er in Form von Bildkacheln auf schwarzem Hintergrund, die die Kommentare und das Vorgelesene bestens illustrieren, wie auch einige nachgestellte Spielszenen.

Der Film geht zu Beginn auf die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg ein, bei denen Psychologen die Angeklagten untersuchten. In diesem Rahmen wurde auch der Rorschachtest eingesetzt, der anhand der Interpretation von „Tintenklecksen“ Störungen der Persönlichkeiten aufdecken will. Die Ergebnisse wurden lange verschwiegen, denn sie gaben keinerlei Aufschluss darüber, dass sich die Verbrecher gegen die Menschlichkeit von anderen Menschen groß unterschieden. Was ist es aber dann, das einen Menschen zum Mitläufer eines totalitären Regimes macht und (im Falle der Schriftsteller) durch Propaganda dessen Gräueltaten deckt und damit zum Mittäter wird? Die Antworten sind ambivalent.


Der Fall (von) Gottfried Benn

Gottfried Benn war schon vor 1933 im Olymp der Literaten angekommen als meisterhafter Vertreter der schreibenden Zunft. Als er sich von den Nationalsozialisten einspannen ließ, mit Amt und Würden belohnt wurde und deren Politik verteidigte, erschauderten etliche seiner Kollegen. Unter ihnen war Klaus Mann, der ein glühender Verehrer von Benns herausragender Schreibkunst war und mit ihm in persönlichem Austausch gestanden hatte. In einem privaten Brief, den er Benn aus dem Exil schrieb, beklagte Mann dessen unselige Allianz mit den Machthabern. Graf und Regnier ließen es sich nicht nehmen, das von Klaus Mann damals bewohnte Hotelzimmer in Südfrankreich aufzusuchen und dort den Brief zu verlesen. Benn antwortete öffentlich darauf und sprach den Emigranten jegliches Mitspracherecht ab. Die Wissenschaftshistorikerin Julia Voss (* 1974) kann die Abgründe Benns kaum fassen, denn sie glaubte lange, dass jemand, der so schreiben kann, ein guter Mensch sein müsse. Im Fall Benn hat sie sich von dieser kindlichen Gläubigkeit schmerzlich verabschieden müssen und beklagt dessen anhaltende Empathielosigkeit. Benn erhielt 1938 Schreibverbot, schrieb aber zunächst unveröffentlicht weiter. Anerkennung für sein Können erhielt er wieder nach dem Krieg.


Zuschauer bei der Verbrennung der eigenen Bücher

Erich Kästner blieb, und er war bei der Bücherverbrennung zugegen, bei der auch seine eigenen Werke den Flammen übergeben wurden. Die Experten bezweifeln allerdings seine Opferrolle, denn er lavierte sich irgendwie durch diese Zeit. Seine Leichtigkeit und sein Esprit seien danach aber partiell verloren gegangen, auch wenn er nach dem Krieg noch erfolgreich war. Schriftsteller, die ihr Schweigen und ihre Zugeständnisse mit „innerer Emigration“ verteidigten, wollen die Literaturwissenschaftler aber nicht unhinterfragt gelten lassen. Dabei lässt sich nicht schlüssig klären, was mutiger ist, die Heimat und den deutschen Sprachraum zu verlassen oder zu bleiben und mit dem Druck durch das Regime irgendwie zurecht zu kommen. Kästner hat während der NS-Zeit unter Pseudonym publizieren und Geld verdienen können. Den großen Zeit-Roman über die Vorgänge im Dritten Reich, mit dem er Zeugnis ablegen und sein Bleiben rechtfertigen wollte, schrieb er jedoch nicht.


Späte Abrechnung

Auch Hans Falladas frühe Begegnung mit dem NS-Regime begann traumatisch, denn er wurde erst einmal zehn Tage inhaftiert. „Ich bin kein sehr mutiger Mensch, ich kann nur sehr viel ertragen“, korrespondierte er mit einem Vertrauten. Er zog sich in ein Dorf nach Mecklenburg-Vorpommern zurück. Doch einen Rückzug ins Neutrale und Unpolitische war in diesen Jahren nicht möglich. Das Filmteam zeigt Falladas Anwesen, das auch noch außerhalb des Dorfes liegt und nur über einen Feldweg zu erreichen ist. Er veröffentlichte während dieser Zeit, aber unter Restriktionen. Für Der Eiserne Gustav musste er den Schluss ideologisch anpassen. Einige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1947 jedoch beendete er seinen Roman Jeder stirbt für sich allein nach realen Ereignissen. Ein Ehepaar, das heimlich systemkritische Postkarten in Umlauf bringt, wird gefasst und zum Tode verurteilt.


Fatale Folgen

Die Rolle derer, die propagandistische Schriften anfertigten, war zentral für den Aufbau und den Erhalt des Regimes. Einer von ihnen war Hanns Johst, dem Kenner attestieren, das er (zumindest in dieser Zeit) ein „grottenschlechter Schriftsteller“ gewesen sei, der von den Nationalsozialisten aber in den Himmel gehoben und mit Ehrungen überhäuft wurde, weil er sich so eindeutig zu ihnen bekannte. Er hatte als Chronist Heinrich Himmler auf Inspektionsreisen durch das frisch annektierte Polen begleiten dürfen und in seinen Berichten die Polen in horrender Weise diffamiert. Warum haben die Deutschen sich davon beeinflussen lassen? Anatol Regnier meint: „Ursprünglich war es die Sehnsucht der Menschen nach etwas Heroischem. Nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs hat Hanns Johst ihnen genau das gegeben.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Johst nur noch unter Pseudonym veröffentlichen.

Ina Seidel hat anfangs ein einziges Mal in Hitlers blaue Augen geschaut und daraufhin eine Huldigung geschrieben. Sie war hinterher von ihrer Hitler-Schwärmerei geheilt, aber in der Nachkriegszeit war ihr Ruf ruiniert, obwohl sie ihren Irrtum öffentlich bekannte.

Jochen Klepper war ein hervorragender Autor und Theologe, seine Kirchenlieder sind aus kirchlichen Gesangbüchern bis heute nicht wegzudenken. Er geriet zunehmend unter Druck, weil er mit einer Jüdin verheiratet war, von der er sich nicht scheiden lassen wollte. Die Lage spitzte sich zu und weil die Deportation seiner Frau und Stieftochter anstand, wählten alle drei den Freitod.

Will Vesper war einer der eifrigsten Verkünder der Ideologie der Nationalsozialisten, den Regnier „Zerberus der Weltanschauung“ nennt. Er arbeitete hinterher u.a. als Herausgeber. Sein Sohn Bernward Vesper veröffentliche 1977 das Buch Die Reise, in dem er sich mit seinem Vater auseinandersetzte. Bernward Vesper war mit der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin liiert und ist der Vater ihres Sohnes Felix. Die RAF arbeitete, wie das NS-Regime mit Feindbildern – in deren Fall „Faschistenschweine“ - und nahm in der Bekämpfung empathielos Kollateralschäden in Kauf. „Das ist eine tiefgreifende Wunde, die der Nationalsozialmus im deutschen Volk hinterlassen hat“, so die Interpretation im Film.


„Ein System der politischen Bewusstlosigkeit“

Günter Rohrbach ist Filmproduzent und hat Bahnbrechendes für Fernsehen und Film in der Bundesrepublik geleistet. Er wurde 1929 geboren und ist damit der einzige Zeitzeuge im Team. In einer abschließenden Analyse macht er darauf aufmerksam, dass die Menschen im Dritten Reich nicht wissen konnten, dass es nach zwölf Jahren vorbei sein würde, sie gingen davon aus, dass das jetzt ihr Leben sei und versuchten sich zu arrangieren. Seine eigene Begeisterung für Hitler lag an den Erfolgen des NS-Regimes mit stetigen Steigerungen, wie die Olympischen Spiele 1936 in Berlin und die anfänglichen Kriegsgewinne. Erst nach dem Fall von Stalingrad 1943 erwachte er und stieg aus seinen Ämtern bei der HJ aus, wurde mit Schimpf und Schande bedacht, was er aber in Kauf nahm. - Er hatte geglaubt, dass Deutschland und die Nationalsozialisten identisch wären und es kein anderes Deutschland gäbe. „Ich kannte nichts anderes: in den Zeitungen, im Radio, überall. Ich hatte keine Lektüre, ich hatte keine Information, dass es auch ein anderes Deutschland gibt... und eine andere Möglichkeit, dieses Land zu regieren.“ Die Erkenntnis, dass das verehrte und geliebte Land von einer Verbrecherclique regiert wurde, habe ihn mit einer Härte getroffen, die man sich nicht vorstellen könne. Der Verlust war so hart, weil er die Gläubigkeit verlor: „Verlust einer Geborgenheit in einer bejahten Welt, einer Welt, der man positiv gegenübersteht.“ Beherrschend sei bei vielen die absolute Leugnung eigener Schuld. Sein Vater hatte als Funktionär eine gewisse Bedeutung errungen, die er als mittlerer Büroangestellter nicht erhielt. Rohrbachs Theorie: „Die Menschen wollen überleben und das, was man am allerschnellsten verliert, ist Schuldbewusstsein... Da tut man alles, das los zu werden, auch aus dem eigenen Gedächtnis.“


Fazit

Es gibt kein Fazit. Dazu sind die jeweiligen Umstände viel zu komplex. Zum Schluss geht Graf noch einmal auf den anfänglich vorgestellten Rorschachtest ein: „Der Faschismus mag nicht notwendigerweise einer krankhaften Veranlagung entspringen, aber er trägt die Eigenschaften eines Virus in sich.“ Das erklärt seine massenhafte Verbreitung in dieser Zeit. Dominik Graf erklärt zudem:


„Je weiter wir Nachgeborenen uns von diesem Panorama des Schreckens chronologisch entfernen, umso dümmer, weil unmenschlicher werden die schlichten Urteile über diese Zeit. Dazu ist dieser Film auch da. Zu sagen: Macht es euch bloß nicht zu einfach! Hier helfen keine Moralapostelei, kein Besserwissertum und auch keine Verdrängung. Dieses Kapitel ist gnadenlos ambivalent, widersprüchlich, grausam und rührend gleichzeitig. Es ist nur allzu menschlich.“



Anatol Regnier und Dominik Graf im Gespräch | © Piffl Medien


*

Klaus Mann hat mit seinem Kult-Roman Mephisto übrigens Gottfried Benn widerlegt, indem er aus dem Exil heraus durchaus die Vorgänge im Dritten Reich zu beschreiben wusste. Es geht darin um einen begnadeten und besessenen Schauspieler, der auf seine Muttersprache angewiesen ist und sich deshalb zur Galionsfigur für das Regime erheben lässt. Mann erlaubt seiner Figur, die an Gustaf Gründgens angelehnt ist, viel Raum für den inneren Konflikt, die Verzweiflung, die Ohnmacht, aber auch die Eitelkeit und das fehlende Rückgrat.

Helga Fitzner - 24. August 2023
ID 14348
https://www.piffl-medien.de/


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