ENCOUNTERS / PERSPEKTIVE DEUTSCHER FILM
Ostfront / Sieben Winter in Teheran
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Wer wirklich wissen wollte, was der Angriffskrieg der russischen Armee unter Befehl von Präsident Vladimir Putin für konkrete, grausige Folgen für die ukrainischen Soldaten und Zivilisten hat, der erfuhr im Film Ostfront der Regisseure von Vitaly Mansky, Yevhen Titarenko deutlich mehr als in Superpower. Ostfront schmeißt den Zuschauer nämlich teilweise unvermittelt mitten in das Kriegsgeschehen im Donbass, wo zur Stunde die wohl verlustreichsten und härtesten Kämpfe des gesamten Krieges stattfinden. Vor den BERLINALE-Kinos stand ein Warnhinweis, dass schwer erträgliche Bilder zu sehen sein werden, was durchaus seine Berechtigung hatte. Zu vermuten ist, dass Titarenko und Mansky, der als vermeintlicher Verräter an der russischen Gesellschaft nach dem Kriegsbeginn 2022 ins Exil ging, noch deutlich mehr und schlimmere Bilder in den Film hätten integrieren können. Aber was sie ausgewählt haben, ist verstörend genug.
Denn neben längeren Interviewpassagen mit ukrainischen Freiwilligen in einem Sanitätsbataillon und ihren Familien gibt es auch Szenen vom Einsatz der Sanitäter unmittelbar an der Front. Verglichen mit den umstrittenen Bildern, die zum Beispiel bei der Invasion der US-amerikanischen Truppen Anfang der 90er Jahre im Irak entstanden sind (durch die so genannten „embedded journalists“) ist das Bildmaterial, das von den Smartphones an den Helmen der Ukraine-Soldaten stammt, noch einmal viel klarer und eindringlicher, weil aus der jeweiligen Ich-Perspektive.
Aber auch die anderen Aufnahmen, die einige Kilometer hinter der Front entstanden sind und einen deutlich größeren Teil des Films ausmachen, sind von bestürzender Wirkung: Neben zerbombten Wohnhäusern, Straßenzügen und zivilen Einrichtungen, die die Sanitäter bei ihren Einsätzen immer wieder mit ihren viel zu kleinen, teils primitiv ausgestatteten Rettungswagen abfahren, sind in einer Szene auch zischende Raketen zu sehen, die in Häuser oder Gärten eines Dorfes einschlagen, das erkennbar keinerlei militärischem Zweck dient. Und dies nur zwei bis drei Kilometer von den sich versteckenden Patrouillen entfernt.
Wie die Sanitäter und Soldaten selbst sagen, werden sie immer wieder Zeugen grotesker bis brutaler Eindrücke, die geradewegs den apokalyptischen Darstellungen Dantes Höllenvision entstammen könnten: ganze Herden verendender Tiere, wildgewordene zurückgelassene Haustiere, übriggebliebenen Lebens- und Gebrauchsmitteln in Schützengräben und zerfetzte Körper inmitten von zerbombten Landschaften. Dazwischen immer wieder Gespräche der Zivilbevölkerung über die lange und spannungsreiche Historie zwischen Russen und Ukrainern, deren bisweilen enge Banden durch den Überfall abrupt zerschnitten wurden. Insofern auch ein bisschen Ostfront-Nachhilfe für Hinz und Kunz, Wagenknecht und Schwarzer im beschaulichen Westen.
Bewertung:
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Ostfront | (C) Vertov
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Auch mehrere ebenso aufschlussreiche Dokumentarfilme über die schlichtweg entsetzliche Lage in Sachen Menschenrechten im Iran waren auf der BERLINALE zu sehen, darunter der von der deutschen Regisseurin Steffi Niederzoll realisierte Beitrag Sieben Winter in Teheran in der Sektion „Perspektive Deutscher Film“ über einen krassen Justizskandal, der mit der Verhaftung einer unbescholtenen jungen Frau im Jahr 2007 seinen Anfang nahm. Die Tochter eines oppositionell eingestellten Ehepaares wurde von der voreingenommenen und bis ins Mark korrupten Polizei verhaftet, nachdem sie sich gegen einen Mann mit Gegengewalt gewehrt hatte, der im Begriff war, sie in seiner Luxuswohnung zu vergewaltigen.
Wie sich durch inoffizielle Informationen herausstellte, war der übergriffige Mann Mitglied des allmächtigen Geheimdienstes – was für sein Opfer das sichere Martyrium inklusive Misshandlungen und Folter im berüchtigsten Gefängnis Teherans bedeutete.
Die tapfere junge Frau hat jedoch trotz Androhung der Todesstrafe ihre Aussage nicht zurückgenommen und wurde sieben Jahre später trotz aller Bemühungen ihrer Familie um Aufklärung und etlicher Gnadenersuche hingerichtet. Ich muss gestehen, dass ich den eindringlichen Dokumentarfilm nicht ganz bis zu Ende geschaut habe, denn es ist unglaublich deprimierend, eine solche zu Himmel schreiende Ungerechtigkeit und derartige moralische Verkommenheit wie bei dem iranischen Regime anzuschauen. Ich hatte wie sicher viele Menschen im Westen immer wieder Hoffnungen an einen politischen Wandel, ganz besonders natürlich nach der so genannten Grünen Revolution, über die es auch beeindruckende Dokumentationen gab. Aber das war 2009!
Und leider sind noch immer Ereignisse und Schicksale zu beklagen, die Filme wie Sieben Winter in Teheran dankenswerterweise veranschaulichen und in Erinnerung rufen. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich eher an eine Niederlage Putins und der russischen Armee in der Ukraine glaube als an den tiefgreifenden Wandel im Iran, wo man als Denunziant viel Geld verdienen kann. Ich habe durch den Film gemerkt, dass mein Vorrat an Empörung und Optimismus aufgezehrt ist. Auch diese betrübliche Erkenntnis gehört zur BERLINALE 2023.
Bewertung:
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Sieben Winter in Teheran | (C) Made in Germany
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Max-Peter Heyne - 28. Februar 2023 (2) ID 14072
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de
Post an Max-Peter Heyne
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