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Kulturspaziergang

Oradur-

sur-Glane

Grauen zum Greifen nahe


Eine alte, verrostete Singer-Nähmaschine als grausiges Detail in der „Village Martyr“ von Oradur-sur-Glane | Foto: Zaubi M. Zaubert



Es ist ein paar Jahre her, als ich den Ortsnamen das erste Mal las, und er sagte mir damals nichts. Irgendwo mitten in Frankreich, ein Hinweisschild zu einer Gedenkstätte: Village Martyr. Ein Blick in den Reiseführer schloss die Wissenslücke. Puh, das ist harter Stoff, stellte ich auf Anhieb fest. Daher wollte ich diesen Ort nicht im Vorbeifahren mitnehmen, sondern mich, wenn schon denn schon, darauf einlassen, wenn ich das nächste Mal in der Gegend bin. Das war nun im Herbst 2024 der Fall.

Was verbirgt sich nun hinter dem Ortsnamen Oradur-sur-Glane? Es handelt sich um ein kleines französisches Städtchen im Département Haute-Vienne. 20 Kilometer nordwestlich von Limoges und 200 Kilometer nordöstlich von Bordeaux, mit heute etwa 2.500 Einwohnern, durchaus idyllisch gelegen in hügeliger waldiger Landschaft. Am 10. Juni 1944 verübte eine Einheit der Waffen-SS hier dass wohl größte Massaker des Zweiten Weltkrieges in Westeuropa. Insgesamt 643 Menschen, darunter 246 Frauen und 207 Kinder, wurden dabei bestialisch ermordet. Im Dorf befanden sich damals viele Kinder aus anderen Regionen Frankreichs, die man hier auf dem Land in Sicherheit wähnte. Die Soldaten trieben Menschen aus umliegenden Dörfern und Gehöften mit den Einwohnern des Ortes auf dem Festplatz des Dorfes zusammen, trennten die Männer von Frauen und Kindern und ermordeten diese an verschiedenen Stellen des Ortes. Frauen und Kinder trieb man in die Kirche. Dort zündeten die Täter eine Kiste mit Nebeltöpfen, die giftigen weißen Phosphor freisetzten. Anschließend warfen sie Handgranaten in das Gebäude und schossen durch Türen und Fenster. Am Ende der Gewaltorgie steckte die SS das gesamte Dorf in Brand.

Zuvor, am 6. Juni 1944, landeten die Alliierten in der Normandie, worauf die Wehrmacht umfangreiche Truppen aus dem Süden Frankreichs in Richtung Norden verlegte, um dort das Vorrücken der Alliierten aufzuhalten. Diese wurden immer wieder von Partisanen des französischen Widerstandes angegriffen. Der Kommandeur der beteiligten deutschen Division, Heinrich Lammerding, war von der Ostfront erfahren in der Bekämpfung von Partisanen. Ob er das Massaker von Oradur selbst anordnete, ist bis heute nicht geklärt. Auf alle Fälle kam es auch in den Tagen davor in der Umgebung zu einigen Massakern an der Zivilbevölkerung. Man wollte mit aller Macht durch Abschreckung den Widerstand der Partisanen brechen und die Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken versetzen.

Noch im November 1944 beschloss die provisorische französische Regierung diesen Ort zu erhalten, den im März 1945 Charles de Gaulle besuchte. 1946 beschloss die französische Nationalversammlung die Erhaltung der Ruinen und den Wiederaufbau von Oradur-sur-Glane. Dabei wurde der alte abgebrannte Ort als „Village Martyr“, als Ruinendorf erhalten und nebenan das neue Dorf errichtet.

Heute nähert sich der Besucher diesem Centre de la mémoire über eine große Betonplatte, unter dem sich bunkerartig der Eingang zu einem Erinnerungs- und Dokumentationszentrum befindet. Im Halbdunkel der unterirdischen Räumlichkeiten wird das Geschehen am 10. Juni 1944 aufbereitet. So gibt es eine große Wand mit Namen, Alter und einem Foto der 643 Opfer. Nach Verlassen der belastenden Zeugnisse und Bilder gelangt man über eine Rampe auf die alte gepflasterte Dorfstraße und nähert sich dem Zentrum des Ortes. Der Kloß in meinem Hals schwillt weiter an. Die Häuser entlang der Straße stehen nach wie vor, wenn man davon absieht, dass sie keine Dächer und Fenster mehr haben, die allesamt verbrannt sind. Aber in einem Haus steht noch eine alte verrostete Singer Nähmaschine, beim Metzger hängt noch das eiserne Gestänge, an dem er seine Würste aufhängte, in der Autowerkstatt steht noch ein alter ausgebrannter und verrosteter Citroen. Auch die Gleise und Oberleitungen der Straßenbahn sind erhalten.



Oradur-sur-Glane: Gedenkstein | Foto: Zaubi M. Saubert


Oradur-sur-Glane: Überbleibsel der früheren Autowerkstatt | Foto: Zaubi M. Saubert


Oradur-sur-Glane: die frühere Hauptstraße | Foto: Zaubi M. Saubert


An einigen Häusern hängen Schilder und verkünden die Hinrichtungsstätten. Die Kirche ist in überraschend gutem Zustand, sogar Reste des Gestühls sind erstaunlicherweise erhalten geblieben. Ansonsten hat das gelegte Feuer alles Holz und Brennbare vernichtet. Es sind an diesem Tag nur wenige Menschen an diesem Ort des Grauens unterwegs. Dadurch werden die optischen Eindrücke intensiver, und die Ruhe ermöglicht es die Atmosphäre aufzunehmen und sich gedanklich zu nähern. Doch es dauert nicht lange, bis der Kloß im Hals mich zu ersticken droht und die Beklemmung immer stärker wird und wie eine Grabplatte auf mir lastet. Ich muss hier wieder raus.

*

Lange Zeit galt Oradur-sur-Glane als Tabu für deutsche Besucher. Erst 2013 besuchte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck als erstes deutsches Staatsoberhaupt, im Rahmen eines Staatsbesuchs, gemeinsam mit Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande das Dorf. Gemeinsam ließen sie sich von einem der wenigen Überlebenden das Grauen des Massakers schildern. Dieses Treffen fand in Frankreich große Beachtung und wurde mit der Versöhnungsgeste von Bundeskanzler Helmut Kohl und Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand 1984 in Verdun verglichen.

Die Aufarbeitung dieser grauenvollen Tat wird bis heute dadurch überschattet, dass die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. 1953 kam es in Bordeaux zu einem Prozess gegen 21 Tatbeteiligte, einfache Soldaten, keine Offiziere. Nicht nur, dass die Urteile als viel zu milde empfunden wurden, nein, 13 Personen wurden kurz nach dem Urteil begnadigt. Es handelte sich um zwangsrekrutierte Elsässer Franzosen. Die Verfolgung der Täter in Westdeutschland fällt noch dürftiger aus. Der befehlende Divisionskommandeur Heinrich Lammerding lebte nach dem Krieg fröhlich als Bauunternehmer in Düsseldorf. Lediglich in der DDR wurde ein Zugführer zu lebenslanger Haft verurteilt. Er wurde vorzeitig entlassen und bezog eine Kriegsopferrente.

Der Besuch in der Village Martyr ist sicher keine leichte Kost. Aber in dem greifbaren Eins-zu-eins, weil vieles noch Original vorhanden ist, entsteht ein ganz besonderes Gefühl an diesem eigentlich so normalen Ort. Hier kann man noch Geschichte und auch das Grauen greifen und sich seiner Geschichte stellen, daher kann ich einen Besuch nur sehr empfehlen.


Zaubi M. Saubert - 28. November 2024
ID 15032
Weitere Infos siehe auch: http://www.oradour.org/


Post an Zaubi M. Saubert

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